Donnerstag, 24. Januar 2013

...dann dieser Abend

wer könnte hier gesessen und gewartet haben?





Als es dämmerte, verließ Emmi Thulin das Haus, mit einem leichten, beschwingten, mit einem aufrechten und stolzen Gang. Energie ging von ihr aus, und Kraft, all das hüllte sie wie ein wehender Mantel ein. Sie trug ein dünnes, wadenlanges Kleid, eins in der Art, wie sie heute nicht mehr modern sind. Es ließ ihre Schultern frei und Emmis Haut war hell und schimmerte, sie war nicht braun wie die vielen anderen in der Stadt, obwohl es schon lange ein warmer Sommer war und man sich am Fluss großartig bräunen konnte. Ihre moccafarbenen Riemchensandalen hatten einen kleinen Absatz, geschwungen, sie waren einmal in Mailand handgearbeitet worden. Der Leisten hatte den richtigen Schwung, um gut darauf gehen zu können. Ihre Haarfarbe war nicht sichtbar, ihr Haar war unter einem pompösen Strohhut versteckt, der Hut trug Blumen und Trauben, Blätter und obendrauf wippte beim Gehen ein knallbunter Kolibri.
Emmis Augen waren hinter dunklem Glas, Emmi trug die große Sonnenbrille und auch die war schon lange aus der Mode.

Natürlich fiel sie auf. Natürlich blieben Leute stehen, sahen ihr nach, aber sie lächelten dabei, denn Emmi sah fantastisch aus, war wie eine Erinnerung an die Vergangenheit, war ein Bild, eine Szene aus einem der altmodischen französischen Filme, die heute wieder neu entdeckt werden.
Emmi Thulin brauchte die Dämmerung, um zu sehen, sie brauchte die blaue Stunde des Sommerabends, um zum Fluss zu gehen, immer ging sie allein, immer trug sie dasselbe und es sah jedes Mal aus wie neu.

An der Stelle, wo der Fluss eine Biegung macht, ist eine Brücke und an dem Brückengeländer steht Emmi jeden Tag. Im Sommer. Im letzten, vorletzten und viele Jahre davor, ganz genau kann man nicht sagen, wie viele Sommer Emmi Thulin hier jeden Abend steht, sich über das Geländer beugt, ganz leicht, nein, nicht wie die Selbstmörder, sondern gelassen, entspannt und schaut zu der Biegung da hinten am Fluss. Wenn die Schatten länger werden und die Luft sich von Lärm, Schmutz, Worten und Seufzern und Gelächter gereinigt hat, lässt sie das Geländer los, geht, bis sie zu einer Treppe kommt, die nach unten, zum Ufer führt. Dort ist ein schmaler Weg, der von wucherndem Grünzeug fast verdeckt ist, hier kann man bis hinter die Biegung gehen. Wenn Schwalben über ihr gleiten, geht Emmi mit ihrem wippenden Kolibri diesen Weg. Niemand hält sie auf, niemand belästigt sie, sie ist ein Bild aus einem Bild.
Das Ende des Weges erreicht sie, wenn es mehr Schatten als Licht gibt, wenn das Wasser ins Dunkelblaugraue geht, das Ende des Weges zeigt; den Fluss, wie er mäandert, und eine winzige Bucht, die einen Platz für zwei Menschen bietet.
Hier setzt sie sich und keiner würde wagen, sie zu stören. Selbst die Kinder nicht.
Hier nimmt Emmi Thulin den Hut ab, legt ihn behutsam neben sich, hier lässt sie ihr Haar frei, langes, welliges, sehr graues Haar mit dunkleren und auch hellen Strähnen, dass ihr schmales Gesicht mit der markanten Nase umrahmt, hier nimmt sie die Sonnenbrille ab und niemand kann in diese leuchtend türkisblauen Augen sehen.
Während ihr Blick das Wasser absucht, sie sich nicht bewegt, als hätte sie Angst, diese spitzigen Wellen könnten sie verschlingen. Während sie steht, wartet sie auf den Mond, egal, ob er Sichel oder ein Kindervollmond ist. Manchmal beginnt sie zu singen, leise, eine hier nicht bekannte Melodie.
Und dann setzt sie ruckartig, hastig, den Hut wieder auf, nicht ohne vorher das Haar hochzustecken, zusammenzustecken, holt aus ihrer Handtasche, dieser beutelartigen, aus bräunlichem, weichen, fleckigen Leder, fleckig wie Tränenspuren ein meergrünes Etui, in dem die Sonnenbrille verschwindet. Fast wie auf der Flucht dreht sie sich um, eilt, hastet, stolpert den Weg zurück zur Treppe, rast hinauf, um dann mit nur etwas Spannung, nur etwas Hüftschwung, aber mit hochgerecktem Kopf nach Hause in die Judengasse zu gehen.
Guten Abend, Frau Thulin! Die Bäckersfrau grüßt freundlich.
Wieder ein schöner Tag, antwortet Emmi mit einer Stimme, die man kaum verstehen kann.

***

Wenn der Nebel über dem Fluss hängt, ihn umklammert, wenn Nässe sich in den Straßen ausbreitet, wenn herbstbunte Blätter ihre Farben verlieren, ein langweiliges Braun annehmen, ist die Sommer-Emmi nicht zu sehen. Im Herbst und im Winter kann man in den Läden der winkligen Gassen Frau Thulin beim Einkaufen sehen. Mantel oder Wetterjacke, Mütze, Haarsträhnen, die herunterhängen, sich gelöst haben, gleichgültiger Blick und gebeugter Gang.

***

Wer die Geschichten der Bewohner hier kennt, weiß auch ein wenig aus Emmis Geschichte.
Vor über zwanzig Jahren, vielleicht auch schon länger, erzählen sich die Leute an langen Abenden, war Emmi mit einem Mann, der 800 Kilometer südlicher wohnte, verlobt. Ein schönes Paar und so glücklich waren sie, seufzen die Älteren.
Und dann.
Dann dieser Abend. Da unten am Fluss, nahe der Bucht. Emmis Verlobter stieg in das Wasser, schwamm los, während sie sich auszog, um hinterher zu schwimmen. Das war nichts Ungewöhnliches, in diesem Fluss konnte man immer schwimmen, besonders an den Stellen, wo er wieder einmal um die Ecke bog, hier war er flach, erst in der Mitte wurde er tiefer, erst in der Mitte griff die heftige Strömung.
Während Emmi auf ihren Freund zu schwamm, sah sie, wie er schneller wurde, wie die Wellen ihn vorwärts trieben, bis er nicht mehr und nie mehr zu sehen war.

All diese Jahre trauert Emmi Thulin um ihren Liebsten, all diese Sommer geht sie hinunter zu Fluss, all diese Abende hofft sie, dass der Mann von der Strömung flussaufwärts getragen, geschoben wird, dass er zurück kommt.
Diese eine Hoffnung ist für sie immer noch stärker als ihr Kummer, als ihr Schmerz, seiner Liebe nie im Leben mehr begegnen zu können.

Monika Detering

www.monika-detering.de







Wilhelmina Pepermint


Hier wohne ich

immer wieder
schaue ins magere Gras
und über das Nordmeer
Wilhelmina Pepermint im Mund
Fischdiebe und kleine Mantelmöwen
segeln und trippeln im Hafen

immer wieder komme ich
schließe die Tür auf
höre das Einuhrläuten
ein Oranjepji auf den Tulpen
Gerookte palings ruft der Händler
Hoch ist der Himmel

immer wieder
wendet mein Sinn die Worte
kommt der Sommer
über die Warften
Kartoffelblüten und
Spiegelwellen
Touristen aufs Schiff

Immer wieder komme ich
schließe die Tür auf
träume dass ich den See quere
dass ich über den Säntis steige
hinab in die Leipziger Tiefebene
Mutter Vater finde Zuhause
Touristen aufs Schiff
Immer wieder wohne ich hier.


  Dr. J. Monika Walther



Sonntag, 6. Januar 2013

Der Kanzlerin glänzend Silvestergewand, frisches Biedermeier und Bitterballjes






Deutscher Schnittmusterbogen. Niederländisches Silvester

            Frau Merkel trug zu ihrer Ansprache im Fernsehen ein sehr schönes glänzendes Jackett. Auch alles, was sie sagte, war fein gesponnen, sogar der etwas langweilige Schluss, da musste eben das Nötigste über den Ernst der Lage ausgesprochen werden. Aber sonst war ihre Rede voller Wärme und Verständnis. Es war Jahresende, 31.12.2012. In nichts übertrieb sie, weder im Guten noch im Schlechten, sie lobte ihre Bürger, sie bat wie eine Staatspräsidentin um Zusammenhalt; wenn wir alle bei ihr und um sie blieben, und uns an den Händen hielten, würde alles gut. Sie erklärte die Lage, tröstete und spornte an, forderte aber Einsicht in das Notwendige, da wir noch nicht die Krise überwunden hätten. Sie vermied das Wort „alternativlos“, aber das hätte auch nicht zu ihrem glänzenden Jackett gepasst, da ja zeigte, dass es zu all den vielen Jacketts, die sie trägt immer noch ein anderes, eine Alternative, möglich ist.



            Alles wird gut werden, sagte Angela Merkel auf die ihr eigene protestantische Art, aber weil eben Jahresende war, glänzte ihr schönes Jackett, lächelte sie und entwarf sie ein hübsch zugeschnittenes Jahr 2013. Deutsches Biedermeier im besten Sinn: vernünftig und einsichtig sollen wir Bürger sein, beruhigt im Privaten leben (was wir die letzten Jahre ja taten),  - und doch zusammenhalten, aber an diesem Punkt gerät wie im echten deutschen Biedermeier das schön gerädelte Schnittmuster, der Entwurf für 2013 durcheinander: Ja, Deutsche lieben Sicherheit und Sauberkeit, das geht über Vieles. Wir sind nicht britisch trunken mit eigenem Kopf und nicht wie die Franzosen revolutionär bei allem, bereit zur Revolte, um dann die Autorität zu akzeptieren, aber auch nicht so unabhängig nordisch wie die skandinavischen Länder; wir wollen es schon ordentlich erklärt bekommen wie es weiter geht. Aber zunehmend machen Deutsche sich auch in alle geistigen Himmelsrichtungen ihre eigenen Gedanken über die sichtbar werdenden Probleme. So war es auch damals im 19. Jahrhundert: Vormärz und Biedermeier, Aufstände, neue Bündnisse und die Suche nach einer sicheren schönen Seite des Lebens.
            Wir mögen unsere Angela Merkel über alle Parteigrenzen hinweg, sie ist unser Staatsoberhaupt, aber wir können nicht alle diese hübschen Jacketts tragen, die Fingerspitzen aneinanderlegen und uns miteinander beruhigen. Wir sind auch beunruhigt und bleiben das, trotz der wunderbaren deutschen Schnittmusterbogen, die Adenauer, Heuss zeichneten, Ehrhardt und – ja Willi Brandt, der nahm aufs neue Maß und Helmut Schmidt ist bis heute einer, der uns alle Zusammenhänge erklärt. Mit Zigarette und weit größerer Komplexität und Lakonie als es Frau Merkel mit den aufeinander gelegten Fingerspitzen möglich ist. Aber er kann ja auch reden wie er will.


Wir sahen und hörten die gesamtdeutsche Silvesteransprache unserer Kanzlerin in den Niederlanden. Im Humaldawei. Zuvor fuhren wir kreuz und quer um die Lauwerzee, schauten Weißwangengänse, Kraniche (Flamingos entdeckten wir keine, aber ein ganzes Feld mit Schwänen, Hunderte). Wir standen am Nordmeer vor den Deichen, in den Häfen. Wir aßen Fritten, kauften Aale und Schaars in Zoutkamp.
            Vor der Aalräucherei lag der Kutter und die Beiboote des Fischers, immer wieder schaute er von drinnen nach draußen, aufs Wasser, zu seinen Booten; immer wieder kamen Leute kauften Flundern, Tongs, Aale (schmale kleine und fein geräucherte Aale), geräucherte rode Pons, zwei Männer tranken Biere aus Flaschen, redeten mit den Frauen, Mädchen, die im Laden arbeiteten.
            Schaars sehen aus wie sehr kleine Schollen und sind etwas weniger bunt. Dezent graufarben. Die obere Seite viel rauer. Kliesche ist der deutsche Name. Der Fischer und seine Tochter lächelten, als wir die Schaars kauften. Beifang. Fremde wollen so etwas nicht, aber wir saßen ja auch da und aßen Fritten, schauten über den Hafen, den ich noch nie so voller Fischfänger, Kutter, Seenotboote, Schnellboote der Wasserschutzpolizei gesehen hatten; nur wenige Segler. Silvester und der tobende Sturm, der heftige Regen.
            Kurz vor acht Uhr verschluckten wir uns noch an  weißgepuderten Olliebollies, aßen Heringshappen, Gurken und Bitterballjes, die zum Jahresabschied von der Wirtin ausgegeben wurden. Große Platten, dazu kleine Bierchen. Punkt zwanzig Uhr schlossen überall (außer in den großen Städten) die Kneipen und Restaurants. Offiziell. Alle gingen nach Hause, aber manche der kleinen Kneipen in den Dörfern ließen ihre Gäste durch die Hintertür wieder hinein. 

            Im Humaldawei wurde seit 24 Stunden geböllert, schwere Kanonenschläge, der Sturm komponierte daraus ein schweres Donnern, so muss 1945 die näher kommende Front an der Oder geklungen haben, der Kampf um die Seelower Höhen vor Berlin. Das dachte ich und auch, warum denke ich immer wieder so etwas. Das hört nie auf, da läuft immer ein zweiter Film in Herz und Kopf.
           



Dann wurden die Schaars gebraten, draußen auf dem Grill, im Regen. Nachbarn rundum winkten und lachten. Im deutschen Fernsehen Silvesterstadl. Oh nein, im niederländischen TV wie immer nichts Glattes: 

eine runde Moderatorin, ein alter Sänger, ein knitteriger Witzemacher, strubbelige Jungs, kunterbunt sowieso. Und wir hörten einen Holzschuhtanz, Janis Joplin, Leonard Cohen, die Bartoli, die Callas. Ein neues Jahr. 2013. Die Raketen über dem Dorf verwehten im Sturm. Überall wurden große Feuer angezündet. 2013.

© J. Monika Walther