Dienstag, 27. Februar 2018

DER ALTE WESTEN





2018-02-27

Der alte Westen

            Die Schafe sind schmutzig. Die Wolle dreckig grau. Die Hinterteile dunkelgrün 
wie Moos oder schwarz. Die Schafe sind sehr still. Die Enten und Gänse sind auch 
sehr still. Es regnet.
            Wenn wir absaufen, saufen wir von hinten ab, sagte die alte 
Frau Abraham vor vielen Jahren. Und bis das geschieht, stricken 
alle an einem Vorhang, der den alten Westen vor der Zukunft 
schützt. Darauf trank die alte Frau Abraham einen Genever. Und lachte.            
Auch wenn sie schlecht inzwischen sieht, weiß sie, dass die Wiesen und Äcker
 Jahr für Jahr nasser werden. Dass ihre Nachbarn die Gräben um die 
Felder immer breiter ziehen, dass sie immer mehr Furchen quer 
durch das Land baggern, damit das Wasser abfließen kann. Sie weiß um die Mühe, 
die viele Arbeit. Auf den Feldern steht der Regen. Das Grundwasser steigt. 
Die Deiche schützen vor dem Meer, aber nicht vor dem Himmelswasser, 
das nicht mehr abfließen kann. Einige Bauern baggern große Seen in der 
Mitte ihrer Felder aus. Andere ziehen noch mehr Gräben. Das Gras 
verschimmelt. Das Wintergetreide ersäuft. Die Grachten laufen über. 
Das Himmelswasser bringt Unglück. Die Wiesen und Felder sind so nass, 
dass kein Traktor auffahren, keine Gülle weggebracht werden kann.
            Den alten Westen, sagt Frau Abraham und schenkt Oude Genever nach, 
den alten Westen gibt es so wenig, wie unsere alten Niederlanden 
je wieder zum Leben zu erwecken sind. Es gibt ja nicht einmal mehr die 
Freiheit der Fischer. Nur Quoten. Und Sklavenarbeit. Der Versuch alle Dinge 
und jeden Menschen gut zu regeln, wird scheitern. Ist schon gescheitert, 
auch wenn unser Land in manchen Provinzen immer noch putzig aussieht. 
Dieser Hof und meine Käserei sind das beste Beispiel. Alles kaputt und vorbei, 
daran ändert auch das staatlich geförderte Reetdach nichts.
            Die alte Frau Abraham schaut aus ihrem Küchenfenster. Der Hof ist 
aufgeräumt. Fast alle Ställe sind leer. Käse macht sie nur noch für sich und 
die Familie. Die lebt in Groningen. Der Sohn arbeitet in Brüssel. Eine 
Tochter in Schweden. Niemand in Fryslân. Das Schild vorne an der Straße 
hat sie weggenommen: Boerenkaas. Geitenkaas. Ziegen gibt es nur noch sechs. 
Die Kühe sind verkauft, die Schweine laufen beim Nachbarn. Wiesen und 
Äcker hat sie für kleines Geld verpachtet. Heimlich brennt Frau Abraham 
Genever, so heimlich, dass alle Nachbarn ihre Bestellungen aufgeben. 
Frau Abraham hat genug zu tun, aber an manchen Tagen muss sie sich 
Mühe geben, nicht darüber traurig zu sein, dass es mit dem Leben auf den 
Höfen vorbei ist, dass alle Nachbarn jedes Jahr wieder ein Stück Bauernarbeit 
aufgeben. Auch im Nebenerwerb. Dass nur wenige die Umstellung auf die 
neuen Zeiten und Fördertöpfe schafften. Immer mehr verlassen die Dörfer. 
Früher, sagt Frau Abraham und gießt wieder Genever in die Gläser, 
früher standen die Felder voller Tulpen und dann folgten Lauch, Kohl und 
Kartoffeln. Nein, früher war nichts besser, aber wir haben das Land bestellt, 
vom Ertrag gelebt. Ja, immer gerackert, aber wir hatten unser eigenes Leben, 
unseren eigenen Kopf. Wir haben nicht nach Den Haag geschaut. Wir waren 
stolz auf uns, auch wenn wir Torf stechen mussten, um die Stube warm zu 
bekommen. Es waren andere Zeiten. Tulpen und Kartoffeln, Lauch und Kohl, 
Käse und Fleisch. Der Genever. Und ja, es gab viele arme Leute. Aber wir waren 
alle miteinander verbunden, auch durch den Glauben, die Regeln.
            Die alte Frau Abraham kann die Welt erklären und weiß doch nicht, 
wie all der Wandel entstanden ist und warum der Leerdammer Käse in China 
billiger ist als im besten friesischen Coop in Anjum. Warum dieser Schnittkäse 
überhaupt erfunden wurde. Gouda ist niederländisch. Leerdammer ist eine 
überflüssige Erfindung, sagt die alte Frau Abraham. Eine von den Erfindungen, 
die uns das Genick brechen.
            Und warum will niemand mehr den echten Geitenkaas essen? Warum 
verschwand die friesische Milch als Marke? Warum werden immer mehr Straßen 
gebaut, die niemand braucht. Auch nicht die breiteren Gehwege, die Parkplätze. 
Wir werden doch immer weniger und nicht mehr, sagt die alte Frau Abraham und 
dann trinken wir noch ein Glas Genever, diesmal mit Würfelzucker auf dem Löffel. 
Das kleine weiße Viereck saugt sich voll, wird durchsichtig und dann lutschen wir 
Genever. In der Küche. Auf den Feldern, jenseits vom leeren Hof, stehen die 
schmutzigen Schafe auf den nassen Wiesen. Neben den Schwänen, Reihern
 und Gänsen. Alle sind sehr still.
            Wir saufen von hinten ab, sagt Frau Abraham. Eure Merkel strickt auch 
an diesem Vorhang, der den alten Westen schützen soll. Wird nichts nützen. 
Frau Abraham ist eine geborene Goldstücker. Aber das sind andere Geschichten 
aus anderen Zeiten und die erzählt die alte Frau Abraham nicht mehr.

© J. Monika Walther