Nächstes Jahr in Jerusalem – der Satz, wenn er in der
Verwandtschaft bei Besuchen und Festen ausgesprochen wurde, war immer in jeder
Hinsicht ein vergeblicher Wunsch: In Erinnerung an eine vergangene Welt, an eine
Familie, die es nicht mehr gab und als Ausdruck von ratloser Sehnsucht, denn
niemand war je in Jerusalem gewesen, gefeiert wurde in Leipzig, in Berlin und
Hamburg, die Erinnerungen galten Schlesien, Galizien, Preußen, Deutschland und
Reisen in westliche Länder, aber nicht einem fremden Flecken irgendwo am Rand
von Europa, in der Wüste. Jenseits vom eigenen Leben und Überleben, denn
emigriert wurde nach England, Kanada, in die USA und die Niederlande, nach Burma
und Frankreich, in die Schweiz. Preußen. Deutsche. Berliner. Leipziger. Die
beiden Hamburger Onkels bauten Schiffe für andere, sie selbst wollten nicht weg
aus Deutschland. Niemand wollte weg. Schon gar nicht nach Osten. Lieber nach
Rotterdam oder Great Britain, in die neue Welt. Mit der Sehnsucht im Herzen nach
dem Leben der Großeltern und Urgroßeltern, aber alle wussten: Diese Zeiten waren
vorbei: Es ging anderswo auf der Welt weiter.
Foto: ©Horst-Dieter Radke
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Foto: ©Horst-Dieter Radke
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Nächstes Jahr in Jerusalem. Das ist alles nicht mehr wahr
und alles vorbei, das war im letzten Jahrhundert. Aber immer wenn ich im Herbst
in Fryslân bin und am Himmel die vielen Dreiecke der fliegenden Enten,
Weißwangengänse, der Kraniche und Schwäne sehe, wie sie hin und her ziehen, sich
eine Wiese suchen, dann wieder aufbrechen, sich nicht entscheiden, das
Naturschutzgebiet rund um das Lauwersmeer zu verlassen, noch einen Tag warten,
denke ich an diesen Satz: nächstes Jahr in Jerusalem. Ich weiß nicht, warum.
Aber es ist so. Nicht wegen des Bleibens oder Wegfliegen. Und wenn: in welche
Richtung und wie weit? Nein, wenn sie da oben schnattern und rufen, wenn sich
mehrere große Dreiecke, die miteinander geflogen sind, trennen, denke ich jedes
Mal: Was rufen sie sich jetzt zu? Nächstes Jahr wieder hier in der Heimat oder
nächstes Jahr ganz woanders? Jerusalem auf keinen Fall. Das Programm ist in den
Köpfen der Enten nicht enthalten, bei den Älteren noch Tunesien und Marokko,
aber heute kann auch schon Südfrankreich zum Überwintern ausreichen. Je weniger
weit, um so schneller sind sie wieder da.
Manche der jungen jüdischen Deutschen haben es geschafft,
in Deutschland als ihrer Heimat zu leben und doch jedes Jahr nach Jerusalem zu
fahren, auf einen Besuch. Zur Vergewisserung. Ich fahre nach Amsterdam, in die
Niederlande, nach Fryslan. Meine Vergewisserung. Meine Erinnerung in die
Zukunft. Die erste Anlaufstation derer, die emigrierten: Hamburg oder irgendein
niederländischer Hafen. Weiter weiter. Und wahr ist auch, dass im
niederländischen Friesland kleine jüdische Kinder aus Nazideutschland
überlebten, Haare gefärbt, pst, und dann liefen statt vier fünf Kinder auf den
Höfen herum.
© J. Monika Walther
Foto: ©Monika Detering |
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Federloser
Sommer
Im Frühjahr Soldaten auf der Kuhwiese
Kinder aufgespießt in Kakteen
Fensterbänke voller Milch die Scheiben blind
Mäusedreck auf Brötchen und Fremde im Bett
Kein Hund will so leben er soll aushalten
Beim Mähen Abgründen ausweichen
In Zimmern ohne Türen ist er gefangen
Wer sind diese Kinder wer die Frauen
Schmutz auf Tischen und Feuer über den Feldern
Nie ist er Zuhause überall fremd
Im Sommer geht er Tag und Nacht
Treppen hinauf und quer über die Wege
Guten Tag sagt er und zieht seine Mütze
Wer sind diese Leute? Gehen wir nach Hause?
Ich muss ins Holz nach Kanada
Sommer ist. Er friert redet Tag und Nacht
Guten Tag sagt er fein sucht die Mütze
Er sucht Geld seine Frau die Kinder das Haus
Er geht in die Werkstatt nagelt Bretter schief
Schreiner ein guter Mann esst und trinkt
Sommer. Welcher Tag welches Jahr wo sind wir
Jetzt gehen wir nach Hause. Hier wohne ich
nicht.
Missglücklich schaut er über die Kuhwiesen
wohin
muss ich aufstehen muss mich anziehen viel zu
spät
Wo gehe ich hin wo bleibe ich. Ich Ihr -
Draußen im Himmel im Holz schlag ich
im Schattenland zieh ich meine Mütze
guten Tag hier lebe ich mein Kaffee
mein Stuhl und Tisch. Eigene Dielen
unter Füssen und Seele. Guten Tag
(für Alfons Uhlending, der die besten Spiegeleier briet
und einen wunderbaren Holzturm an unser Haus von 1898 baute, einen Turm, den das
Amt für Denkmalschutz als vorbildlich lobte)
© J. Monika Walther