Freitag, 21. Oktober 2016

Vorbei an Schafen und direkt auf London zu - von Zuhause nach Zuhause reisen










21. Oktober 2016

            Die Haustüre abschließen. Mit fremdem Blick das Haus anschauen. Alles in Ordnung. Ein Licht angelassen. Närrischer Schutz vor Einbrechern. Ein Rabe stolziert auf dem Dach. Keine Chance für die Kolonie wieder in den beiden Kaminen zu nisten. Schutzgitter versperren den Zugang. Die Kolkraben wollen sich damit nicht abfinden. Sie sitzen auf dem Dachfirst und hacken an den Blechen. Die Hühner stehen am Maschendraht. Kikkeriki. Äpfel und Rucksack auf den Beifahrersitz. Das Ziel eingeben: Ee in Fryslân.
            Ich fahre weg. Vorbei am Dom, vorbei am Bäcker und der Tankstelle, vorbei am Klavierbauer und vielen Einfamilienhäusern. Nicht einfach sie auf dem neuesten Stand zu halten. Überall wird renoviert, ausgebessert, angebaut. Wenigsten der Vorgarten neu gemacht. Kies oder Platten statt Rasen. Bäume werden gefällt, damit nicht so viel Laub zu kehren ist.


Dorf light. Alle werden älter. Die alten Fotografien zeigen die Durchgangsstraße noch als Feldweg. Am Rand stehen Milchkannen. Früher.
            Ich fahre in den Nebel. Vorbei an Stoppelfeldern, umgepflügten Äckern. Ein Stück Land mit Sonnenblumen. Verdorrter Mais. Vorbei an kleinen Höfen, die nicht die geringste Chance hatten zu überleben, deren Immobilienwert ins Bodenlose gefallen ist. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Psalm neunzig. Manchen Häusern ist die Mühe anzusehen, das ewige Nichtvorankommen. Immer zu wenig Geld für die Plackerei bekommen. Bei einer Landgaststätte wechseln die Besitzer jedes Jahr. So viele Hoffnungen: New America. In der Kurve. Truckerstopp. Mittagsbrunch 10 Euro 50. Vorbei vorbei.

            An Bauernhöfen, die längs der Straße Spargel, Erdbeeren und Weihnachtsbäume anbieten. An einer tristen Bar mit Prostutierten, gegenüber ein Bauernhof, der sich auf antike Lampen spezialisiert hat. Ein anderer bietet Kutschfahrten und Touren mit Planwagen an. Das Glockengießerdorf Gescher. Jeder Misthaufen und jeder Mensch benötigt im 21. Jahrhundert ein Alleinstellungsmerkmal. Es genügt nicht, dass Gescher ein schönes altes Dorf ist. War. Inzwischen ein Wohnort für Leute, denen Münster zu teuer und zu voll ist. 

            Dann die Autobahn. A 31. Richtung Emden. Entlang der braunen Schilder für Sehenswürdigkeiten. Die Vechte. Der Vechte-Ems-Kanal. Schloss Ahaus, Schloss Dankern. Die Grafschaft Bentheim. Festungswall Meppen. Festung Bourtange in der Provinz Groningen. Wichtig für den achtzigjährigen Krieg, in dem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpfte. Achtzig Jahre. Drei Generationen zu damaligen Zeiten. Von 1568 bis 1648 kämpfte die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande. Dann schieden die nördlichen Provinzen aus dem Verband des Heiligen Römischen Reichs aus. Der südliche Teil der Niederlande blieb bei Spanien. Im 19. Jahrhundert entstand dann das Königreich Belgien. Die Festung Bourtange wurde im Dreißigjährigen Krieg immer wieder technisch auf den neuesten Stand gebracht. Und auch Ersten Schlesischen Krieg 1740 bis 1742 wurde diese große Festungsstadt mitten in der Moorlandschaft ausgebessert, ausgebaut. Erst 1851 wurde Bourtange militärisch aufgegeben. Früher war also nicht alles besser, weil die Menschen immer Kriege führen. Den Niederlanden brachten die achtzig Jahre die Freiheit von der spanischen Besatzung und ein für immer geteiltes Land.

Vorbei an der Gedenkstätte Esterwegen. Fünfzehn Lager gab es im Emsland. 1933 entstand das Konzentrationslager Börgermoor. KZ Esterwegen, Neusustrum; und viele kleine und große Lager folgten. In der „Hölle am Waldesrand“ in Esterwegen wurde auch der Häftling 562, Carl von Ossietzky, gequält. Im Emsland, in der Moorlandschaft, erprobten die deutschen Faschisten ihr Lagersystem. Lange vor Auschwitz. Vernichtung durch Arbeit, Hunger, Kälte, Schläge. Aus dem Moor sollte Ackerland für zweitausendfünfhundert arische Siedler entstehen. 50 000 Hektar Land. Also mussten gefangen genommene Bürger unter unmenschlichen Bedingungen Gräben ziehen. In Diktaturen gibt es unzählige Gründe Menschen zu verhaften und aller Rechte zu berauben. Das nützt wie immer dem Kapital und denen, die sich zum Volk und Verkündern der einzigen noch geltenden Ideologie erhoben haben. Alle Arier sind dumme Blondies und haben Angst vor den Schwarzhaarigen. Sie wissen es nur nicht.

Die A 31. Schnurgerade führt sie ans Nordmeer. Entlang der Autobahn Mastanlagen. Händler für Autos, Traktoren und Wohnwagen. Firmen für Metallbauten, Verpackungen. Outletbunker. Kleine Bauernhöfe. Moore, Moorseen. Ein Moormuseum. Die Fahrt von Hiddingsel, einem Dorf im Münsterland, bis in den Humaldawei in Fryslân dauert drei Stunden. Früher fuhr ich mit einer Citröenente bei Gronau über die Grenze nach Enschede. Weiter nach Hengelo, Almelo, Richtung Nijverdaal. Dort war Pause. Ein Tostie, ein Bier, ein Genever. Dann weiter Richtung Ommen, Hoogeveen, Drachten. In Kollum einkaufen, dann über die Dokumer Nieuwe Zijlen. Durch Engwierum noch, dann angekommen. Fünf Stunden unterwegs. Im Winter erst einmal den Ofen angemacht. Da gab es noch keine Heizung, kein Internet, kein Fernsehen. Die Renovierung des kleinen Hauses von 1898 war mangels Geld stecken geblieben. 

Nach diesem Früher wurden noch viele Strecken ausprobiert, über Meppel und Heerenveen, Zwolle und Appelcha. Immer neue Autobahnen entstanden. Landstraßen wurden ausgebaut. In einem halben Jahrhundert verändert sich viel. Und der schnellste Weg war nicht immer die schönste Route. Schließlich die A 31. Schließlich ein schnelles Auto. Kein Tostie, Bier und Genever in Nijverdaal. Kein Herumbummeln. Früher schien mehr Zeit öfter stillzustehen. Früher. Ja, früher war alles besser, sagte meine Tante in Leipzig und meinte die Weimarer Zeit, die Zeit vor den Nazis und vor der Emigration. Zu dem Davor kam mit den Jahren immer mehr dazu: Vor der Rückkehr aus England, bevor die DDR entstand. Vor dem Mauerbau. Danach war dann alles zu spät. Die Familie wieder zweigeteilt.

Neben der Autobahn fließt die Ems. Von Hiddingsel nach Emden. Bis in die Nordsee. Bei Ditzum. Da war ich noch nie, weil ich ja schnell fahre und nicht mehr mit dem Auto herumbummle. Ich fahre los und komme an. Ich schaue rechts und links, auf die Kilometer und die Geschwindigkeit. Überlege, wohin ich fahren könnte, aber halte Spur. Nach Verlassen der A 31 wird die Versuchung immer größer, woanders hinzufahren. Und blühn einmal die Rosen, ist der Winter vorbei. Nur der Mensch, weil er fortgeht, nachher kommt er nicht mehr. Nach Pieterburen. Wehe dem Horn. Ich könnte nach Emshaven fahren oder nach Delfzijl. Ein Schiff besteigen. Nein, ich halte die Richtung.
Nach der Abfahrt Richtung Groningen wird das Land flacher. Die erste Möwe schwebt im Himmel. Enten und Schwäne fliegen in wechselnden Dreiecken. Von Ferne taucht der mächtige Turm der Martinikerk auf. Und ich sehe die Spitze der Aa-kirche am Fischmarkt. Ich fahre über den Eemskanaal, den Noord-Willemskanaal, staune über die architektonischen Kunststücke der Stadt. Die dicke Betonkette um den Sitz der Industriemanager. Im Zweiten Weltkrieg wurde viel zerstört. Drei Tage dauerten im April 1945 die Straßenkämpfe in der Innenstadt. Erst dann kapitulierten die deutschen Besatzungstruppen, der Landstorm Nederland der Waffen-SS und die belgischen SS-Einheiten. Kanadier mussten diesen heftigen Kampf bestehen. Von der großen jüdischen Gemeinde, die die Emigration nach Palästina und die Zusammenarbeit mit zionistischen Vereinen abgelehnt hatte, überlebten nur wenige Menschen, untergetaucht und in Verstecken. Im Schilf. Von Dreitausend eine Handvoll. Dreitausend, die als Niederländer gefühlt und gelebt hatten. National orientiert. Bürger jüdischen Glaubens. Ermordet. Zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehört inzwischen auch eine Battlefield Tour. Zu den Gräbern der toten Kanadier. Das Bevrijdingsfestival Groningen wird jedes Jahr am 5. Mai gefeiert. Ein zweites Freiheitsfest gibt es am 28. August. In jedem Jahr.

1672 wurde Groningen vom Münsteraner Bischof Bernhard von Galen belagert. Fünf Wochen lang. Der Bischof erhob Anspruch auf die halbe Provinz. Alles meins. Er hatte den Beinamen Bommen Berend (Bomben Bernhard), weil er die Stadt während der Belagerung mit fünftausend Bomben überzog. Am 28. August wurde die Stadt unter Leitung von Oberst Carl von Rabenhaupt befreit, und das wird als »Gronings Ontzet« heute gefeiert. Der Kampf gegen den Fürstbischhof von Galen ging noch zwei Jahre weiter. So ließ er unter ungeheurem Aufwand die Vechte aufstauen, um Coevorden unter Wasser zu setzen. Rabenhaupt war inzwischen Bürgermeister von Groningen und Droste von Drenthe, sowie Gouverneur von Coevorden und kämpfte bis 1674 gegen den Bischhof. Er befreite Nordhorn und Neuenhaus in der Grafschaft Bentheim, dann Schüttorf. Zuletzt plante er noch, eine französische Armee aus Grave zu vertreiben. Ein Ort, dessen Brücke über die Maas, am Ende des Zweiten Weltkrieges sehr umkämpft war. Bei genauem Hinschauen ist in jedem friesischen Landstrich, West- oder Ostfriesland, Nordfriesland, deutsch oder niederländisch, viel Krieg und Leid zu entdecken. Aber weiter. 

Vorbei an der Winschoterdiep. Und Abfahrt von der Autobahn. Vorbei an Schafen und direkt auf London zu. Dort an der Kreuzung links. In Sebaldeburen steht ein Haus, in dessen Giebel groß London geschrieben ist. Längs der Wolddiep und zahllosen kleinen Kanälen und Grachten, bei Gaarkeuken über den breiten Starkenborghkanaal. Dann schnell vorbei am Bahnhof Grijpskerk. Jedes Mal schlägt das Herz dort einen Takt schneller und jedes Mal bedauere ich, dass ich dort einmal einen Menschen abholte und in mein Haus ließ. Ein Opfer, das alle in seiner Umgebung instrumentalisierte. So durchlief auch ich die Phasen von der Helferin zur Täterin, um als Opfer zu enden. Bevor ich dann endlich zurückschlug. Schnell weiter Richtung Lauwerszee. 

Vorbei an den vielen Gasfeldern; überall wurde jahrelang gebohrt, neues Erdgas entdeckt. Die Gefahren verschwiegen, bis es die ersten Explosionen gab. Vorbei an ruinierten Bauernhöfen, an Häusern und Scheunen, die langsam zerfallen. Altes neben Neuem. Vor vielen der kleinen Ziegelbauten steht ein Schild mit Te koop, aber wer sollte kaufen. Das Neue entsteht direkt am Lauwersmeer, in Zoutkamp, am Hafen, am wachsenden Campinggelände. Immer anderswo. Viele Häuser stehen leer, niemand braucht sie. Die Dörfer schrumpfen. Das Sterben ist entsetzlich langsam und fast überall stemmen sich die Bewohner tapfer dagegen. Sie kämpfen, um ein neues Schild, eine neue Straßendecke, aber die Bankfiliale schließt. Die Läden, die Kneipe.

Der Himmel wird immer weiter, die Wolkenbilder ziehen in aller Pracht mit dem Wind. Die Erdlinien zeigen, dass ich auf einer Kugel fahre. Das Herz und die Sinne gehen auf. Fast bin ich da. Noch über die Dokkumer Nieuwe Zijlen, an der Schleuse und dem alten Hafen vorbei. Früher lagen hier die Schiffe der Garnelenfischer, heute gibt es ein kleines Café in der alten Hafenmeisterei: De Dream. Links abbiegen nach Engwierum, weiter nach Ee. Ein erster fremder Blick auf das kleine Haus. Ist die Nachbarin da? Aufschließen. Von Zuhause nach Zuhause gefahren. 

Früher, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, radelte die Droste auf einem Hollandrad vom Rüschhaus an den Ufern der Ems entlang. In Groningen ging Annette ins Grote Gasthuis am Fischmarkt, trank einige Gläser Oude Genever und aß große, gebutterte Rosinenbrötchen, dann radelte sie wieder entlang der Ems zurück ins Münsterland und fügte sich in die Konventionen ihres adeligen Standes. Ihr Spiegelbild zeigte immer eine andere, das Dasein blieb ihr fremd, aber manchmal riss sie aus, längs der Flüsse und Seen. So war das früher. Vielleicht.


           

Vorbei an Schafen und direkt auf London zu - von Zuhause nach Zuhause reisen










21. Oktober 2016

            Die Haustüre abschließen. Mit fremdem Blick das Haus anschauen. Alles in Ordnung. Ein Licht angelassen. Närrischer Schutz vor Einbrechern. Ein Rabe stolziert auf dem Dach. Keine Chance für die Kolonie wieder in den beiden Kaminen zu nisten. Schutzgitter versperren den Zugang. Die Kolkraben wollen sich damit nicht abfinden. Sie sitzen auf dem Dachfirst und hacken an den Blechen. Die Hühner stehen am Maschendraht. Kikkeriki. Äpfel und Rucksack auf den Beifahrersitz. Das Ziel eingeben: Ee in Fryslân.
            Ich fahre weg. Vorbei am Dom, vorbei am Bäcker und der Tankstelle, vorbei am Klavierbauer und vielen Einfamilienhäusern. Nicht einfach sie auf dem neuesten Stand zu halten. Überall wird renoviert, ausgebessert, angebaut. Wenigsten der Vorgarten neu gemacht. Kies oder Platten statt Rasen. Bäume werden gefällt, damit nicht so viel Laub fällt. Dorf light. Alle werden älter. Die alten Fotografien zeigen die Durchgangsstraße noch als Feldweg. Am Rand stehen Milchkannen. Früher.
            Ich fahre in den Nebel. Vorbei an Stoppelfeldern, umgepflügten Äckern. Ein Stück Land mit Sonnenblumen. Verdorrter Mais. Vorbei an kleinen Höfen, die nicht die geringste Chance hatten zu überleben, deren Immobilienwert ins Bodenlose gefallen ist. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Psalm neunzig. Manchen Häusern ist die Mühe anzusehen, das ewige Nichtvorankommen. Immer zu wenig Geld für die Plackerei bekommen. Bei einer Landgaststätte wechseln die Besitzer jedes Jahr. So viele Hoffnungen: New America. In der Kurve. Truckerstopp. Mittagsbrunch 10 Euro 50. Vorbei vorbei.

            An Bauernhöfen, die längs der Straße Spargel, Erdbeeren und Weihnachtsbäume anbieten. An einer tristen Bar mit Prostutierten, gegenüber ein Bauernhof, der sich auf antike Lampen spezialisiert hat. Ein anderer bietet Kutschfahrten und Touren mit Planwagen an. Das Glockengießerdorf Gescher. Jeder Misthaufen und jeder Mensch benötigt im 21. Jahrhundert ein Alleinstellungsmerkmal. Es genügt nicht, dass Gescher ein schönes altes Dorf ist. War. Inzwischen ein Wohnort für Leute, denen Münster zu teuer und zu voll ist. 

            Dann die Autobahn. A 31. Richtung Emden. Entlang der braunen Schilder für Sehenswürdigkeiten. Die Vechte. Der Vechte-Ems-Kanal. Schloss Ahaus, Schloss Dankern. Die Grafschaft Bentheim. Festungswall Meppen. Festung Bourtange in der Provinz Groningen. Wichtig für den achtzigjährigen Krieg, in dem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpfte. Achtzig Jahre. Drei Generationen zu damaligen Zeiten. Von 1568 bis 1648 kämpfte die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande. Dann schieden die nördlichen Provinzen aus dem Verband des Heiligen Römischen Reichs aus. Der südliche Teil der Niederlande blieb bei Spanien. Im 19. Jahrhundert entstand dann das Königreich Belgien. Die Festung Bourtange wurde im Dreißigjährigen Krieg immer wieder technisch auf den neuesten Stand gebracht. Und auch Ersten Schlesischen Krieg 1740 bis 1742 wurde diese große Festungsstadt mitten in der Moorlandschaft ausgebessert, ausgebaut. Erst 1851 wurde Bourtange militärisch aufgegeben. Früher war also nicht alles besser, weil die Menschen immer Kriege führen. Den Niederlanden brachten die achtzig Jahre die Freiheit von der spanischen Besatzung und ein für immer geteiltes Land.

Vorbei an der Gedenkstätte Esterwegen. Fünfzehn Lager gab es im Emsland. 1933 entstand das Konzentrationslager Börgermoor. KZ Esterwegen, Neusustrum; und viele kleine und große Lager folgten. In der „Hölle am Waldesrand“ in Esterwegen wurde auch der Häftling 562, Carl von Ossietzky, gequält. Im Emsland, in der Moorlandschaft, erprobten die deutschen Faschisten ihr Lagersystem. Lange vor Auschwitz. Vernichtung durch Arbeit, Hunger, Kälte, Schläge. Aus dem Moor sollte Ackerland für zweitausendfünfhundert arische Siedler entstehen. 50 000 Hektar Land. Also mussten gefangen genommene Bürger unter unmenschlichen Bedingungen Gräben ziehen. In Diktaturen gibt es unzählige Gründe Menschen zu verhaften und aller Rechte zu berauben. Das nützt wie immer dem Kapital und denen, die sich zum Volk und Verkündern der einzigen noch geltenden Ideologie erhoben haben. Alle Arier sind dumme Blondies und haben Angst vor den Schwarzhaarigen. Sie wissen es nur nicht.

Die A 31. Schnurgerade führt sie ans Nordmeer. Entlang der Autobahn Mastanlagen. Händler für Autos, Traktoren und Wohnwagen. Firmen für Metallbauten, Verpackungen. Outletbunker. Kleine Bauernhöfe. Moore, Moorseen. Ein Moormuseum. Die Fahrt von Hiddingsel, einem Dorf im Münsterland, bis in den Humaldawei in Fryslân dauert drei Stunden. Früher fuhr ich mit einer Citröenente bei Gronau über die Grenze nach Enschede. Weiter nach Hengelo, Almelo, Richtung Nijverdaal. Dort war Pause. Ein Tostie, ein Bier, ein Genever. Dann weiter Richtung Ommen, Hoogeveen, Drachten. In Kollum einkaufen, dann über die Dokumer Nieuwe Zijlen. Durch Engwierum noch, dann angekommen. Fünf Stunden unterwegs. Im Winter erst einmal den Ofen angemacht. Da gab es noch keine Heizung, kein Internet, kein Fernsehen. Die Renovierung des kleinen Hauses von 1898 war mangels Geld stecken geblieben. 

Nach diesem Früher wurden noch viele Strecken ausprobiert, über Meppel und Heerenveen, Zwolle und Appelcha. Immer neue Autobahnen entstanden. Landstraßen wurden ausgebaut. In einem halben Jahrhundert verändert sich viel. Und der schnellste Weg war nicht immer die schönste Route. Schließlich die A 31. Schließlich ein schnelles Auto. Kein Tostie, Bier und Genever in Nijverdaal. Kein Herumbummeln. Früher schien mehr Zeit öfter stillzustehen. Früher. Ja, früher war alles besser, sagte meine Tante in Leipzig und meinte die Weimarer Zeit, die Zeit vor den Nazis und vor der Emigration. Zu dem Davor kam mit den Jahren immer mehr dazu: Vor der Rückkehr aus England, bevor die DDR entstand. Vor dem Mauerbau. Danach war dann alles zu spät. Die Familie wieder zweigeteilt.

Neben der Autobahn fließt die Ems. Von Hiddingsel nach Emden. Bis in die Nordsee. Bei Ditzum. Da war ich noch nie, weil ich ja schnell fahre und nicht mehr mit dem Auto herumbummle. Ich fahre los und komme an. Ich schaue rechts und links, auf die Kilometer und die Geschwindigkeit. Überlege, wohin ich fahren könnte, aber halte Spur. Nach Verlassen der A 31 wird die Versuchung immer größer, woanders hinzufahren. Und blühn einmal die Rosen, ist der Winter vorbei. Nur der Mensch, weil er fortgeht, nachher kommt er nicht mehr. Nach Pieterburen. Wehe dem Horn. Ich könnte nach Emshaven fahren oder nach Delfzijl. Ein Schiff besteigen. Nein, ich halte die Richtung.
Nach der Abfahrt Richtung Groningen wird das Land flacher. Die erste Möwe schwebt im Himmel. Enten und Schwäne fliegen in wechselnden Dreiecken. Von Ferne taucht der mächtige Turm der Martinikerk auf. Und ich sehe die Spitze der Aa-kirche am Fischmarkt. Ich fahre über den Eemskanaal, den Noord-Willemskanaal, staune über die architektonischen Kunststücke der Stadt. Die dicke Betonkette um den Sitz der Industriemanager. Im Zweiten Weltkrieg wurde viel zerstört. Drei Tage dauerten im April 1945 die Straßenkämpfe in der Innenstadt. Erst dann kapitulierten die deutschen Besatzungstruppen, der Landstorm Nederland der Waffen-SS und die belgischen SS-Einheiten. Kanadier mussten diesen heftigen Kampf bestehen. Von der großen jüdischen Gemeinde, die die Emigration nach Palästina und die Zusammenarbeit mit zionistischen Vereinen abgelehnt hatte, überlebten nur wenige Menschen, untergetaucht und in Verstecken. Im Schilf. Von Dreitausend eine Handvoll. Dreitausend, die als Niederländer gefühlt und gelebt hatten. National orientiert. Bürger jüdischen Glaubens. Ermordet. Zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehört inzwischen auch eine Battlefield Tour. Zu den Gräbern der toten Kanadier. Das Bevrijdingsfestival Groningen wird jedes Jahr am 5. Mai gefeiert. Ein zweites Freiheitsfest gibt es am 28. August. In jedem Jahr.

1672 wurde Groningen vom Münsteraner Bischof Bernhard von Galen belagert. Fünf Wochen lang. Der Bischof erhob Anspruch auf die halbe Provinz. Alles meins. Er hatte den Beinamen Bommen Berend (Bomben Bernhard), weil er die Stadt während der Belagerung mit fünftausend Bomben überzog. Am 28. August wurde die Stadt unter Leitung von Oberst Carl von Rabenhaupt befreit, und das wird als »Gronings Ontzet« heute gefeiert. Der Kampf gegen den Fürstbischhof von Galen ging noch zwei Jahre weiter. So ließ er unter ungeheurem Aufwand die Vechte aufstauen, um Coevorden unter Wasser zu setzen. Rabenhaupt war inzwischen Bürgermeister von Groningen und Droste von Drenthe, sowie Gouverneur von Coevorden und kämpfte bis 1674 gegen den Bischhof. Er befreite Nordhorn und Neuenhaus in der Grafschaft Bentheim, dann Schüttorf. Zuletzt plante er noch, eine französische Armee aus Grave zu vertreiben. Ein Ort, dessen Brücke über die Maas, am Ende des Zweiten Weltkrieges sehr umkämpft war. Bei genauem Hinschauen ist in jedem friesischen Landstrich, West- oder Ostfriesland, Nordfriesland, deutsch oder niederländisch, viel Krieg und Leid zu entdecken. Aber weiter. 

Vorbei an der Winschoterdiep. Und Abfahrt von der Autobahn. Vorbei an Schafen und direkt auf London zu. Dort an der Kreuzung links. In Sebaldeburen steht ein Haus, in dessen Giebel groß London geschrieben ist. Längs der Wolddiep und zahllosen kleinen Kanälen und Grachten, bei Gaarkeuken über den breiten Starkenborghkanaal. Dann schnell vorbei am Bahnhof Grijpskerk. Jedes Mal schlägt das Herz dort einen Takt schneller und jedes Mal bedauere ich, dass ich dort einmal einen Menschen abholte und in mein Haus ließ. Ein Opfer, das alle in seiner Umgebung instrumentalisierte. So durchlief auch ich die Phasen von der Helferin zur Täterin, um als Opfer zu enden. Bevor ich dann endlich zurückschlug. Schnell weiter Richtung Lauwerszee. 

Vorbei an den vielen Gasfeldern; überall wurde jahrelang gebohrt, neues Erdgas entdeckt. Die Gefahren verschwiegen, bis es die ersten Explosionen gab. Vorbei an ruinierten Bauernhöfen, an Häusern und Scheunen, die langsam zerfallen. Altes neben Neuem. Vor vielen der kleinen Ziegelbauten steht ein Schild mit Te koop, aber wer sollte kaufen. Das Neue entsteht direkt am Lauwersmeer, in Zoutkamp, am Hafen, am wachsenden Campinggelände. Immer anderswo. Viele Häuser stehen leer, niemand braucht sie. Die Dörfer schrumpfen. Das Sterben ist entsetzlich langsam und fast überall stemmen sich die Bewohner tapfer dagegen. Sie kämpfen, um ein neues Schild, eine neue Straßendecke, aber die Bankfiliale schließt. Die Läden, die Kneipe.

Der Himmel wird immer weiter, die Wolkenbilder ziehen in aller Pracht mit dem Wind. Die Erdlinien zeigen, dass ich auf einer Kugel fahre. Das Herz und die Sinne gehen auf. Fast bin ich da. Noch über die Dokkumer Nieuwe Zijlen, an der Schleuse und dem alten Hafen vorbei. Früher lagen hier die Schiffe der Garnelenfischer, heute gibt es ein kleines Café in der alten Hafenmeisterei: De Dream. Links abbiegen nach Engwierum, weiter nach Ee. Ein erster fremder Blick auf das kleine Haus. Ist die Nachbarin da? Aufschließen. Von Zuhause nach Zuhause gefahren. 

Früher, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, radelte die Droste auf einem Hollandrad vom Rüschhaus an den Ufern der Ems entlang. In Groningen ging Annette ins Grote Gasthuis am Fischmarkt, trank einige Gläser Oude Genever und aß große, gebutterte Rosinenbrötchen, dann radelte sie wieder entlang der Ems zurück ins Münsterland und fügte sich in die Konventionen ihres adeligen Standes. Ihr Spiegelbild zeigte immer eine andere, das Dasein blieb ihr fremd, aber manchmal riss sie aus, längs der Flüsse und Seen. So war das früher. Vielleicht.


           

Mittwoch, 27. Juli 2016

Humaldawei: Wenn Dörfer und Menschen verschwinden, aber die Hä...

Humaldawei: Wenn Dörfer und Menschen verschwinden, aber die Hä...: 2016-07-27             Was wird nachgelassen, wenn der Vertrag mit dem Leben abgelaufen ist? Ein Haus, ein Baum, ein Buch? Fami...

Wenn Dörfer und Menschen verschwinden, aber die Häuser bleiben



2016-07-27


            Was wird nachgelassen, wenn der Vertrag mit dem Leben abgelaufen ist? Ein Haus, ein Baum, ein Buch? Familie. Geschichten. Tradition? Schnick schnack schnuck. Stein Schere Brunnen und Papier. Manchmal haben wir gewonnen und uns diebisch gefreut. Der kleine Extrapreis im Leben. Früher ging es dabei ums Abwaschen oder Abtrocknen. In den Zeiten vor der Spülmaschine. Früher und heute; hier, überall und am Ende der Welt. Das Nebeneinander und die gewusste Gleichzeitigkeit von allem und jedem im Kopf und in der Seele. Alles da, alles nah. Von der überbordenden Werbung bis zu den Toten und Attentaten überall. Macheten, Messer, Splitterbomben, Langgewehre.
            Hier ein guter Espresso, dort Folter in der Türkei, Bomben in Bagdad, ertrinkende Flüchtlinge. Kriege. Viele wohnen in keinem Haus und sind die Schleuderfiguren der Mächtigen. Werden geduldet. Ohne Vertrag für ein Leben in Würde. Und ihr Nachlass?              

Und was hinterlassen die Donalds und Receps, die wie so viele Menschen glauben, Hass sei eine Meinung; Mauern und Säuberungen eine Lösung. Alles nah, alles kommuniziert, alles da. Mülleimer, die über mich ausgeschüttet werden und deren Inhalt ich sortieren und mich entscheiden muss. Und wie verhalte ich mich, wenn ich mir sicher bin, dass die Türkei sich zu einer Diktatur entwickelt? Was hat das mit den Rosen und Mohnblüten im Garten zu tun, mit den weißen Tauben des Nachbars? Wie hängt das alles zusammen und welche Rolle spiele ich?
            Ich war 23 Jahre alt, als ich das Huisje in Ee kaufte. Für sechstausend Gulden, die Knechtswohnung des kleinen Bauernhofes in Fryslân. Von Ans und Piet Hiemstra. Eine Ruine. Ohne Wasser und Elektrizität. Abends trotteten zwölf Kühe in den Stall. Ans hatte keinen Herd, keine Dusche. Piet sagte damals, du kannst ja links sein, aber an Gott glaubst du doch? Ja, sagte ich, das tue ich. Und das stimmt bis heute. Damals, in den 60er Jahren, war das Leben auch in den Niederlanden ein ganz anderes als heute, auch wenn auf den Dörfern die Umbrüche immer etwas später und langsamer ankommen. Zum Glück, denn nun wird immer sichtbarer wie die Dörfer in ganz Europa sterben. Selbst Gott verschwindet. Der Ablauf war im letzten Jahrhundert immer derselbe. Als Dörfer wie Ee in Fryslân oder Hiddingsel im Münsterland noch lebten, gab es zwei Schlachter, drei Lebensmittelhändler, zwei Bäcker, einen Brennstoffhändler, einen Priester oder Pfarrer sowieso, vier Kneipen, eine Tankstelle, einen Malerbetrieb, eine Schreinerei, einen Fahrradladen, eine Autowerkstatt, ein Geschäft für Pferdegeschirre, eines für Kleidung, eines für Töpfe und Pfannen, einen Schmied. Eine Post, ein Fuhrunternehmen. Eine Schule. Dann schrumpfte die Einwohnerzahl. Ende des Jahrhunderts gab es noch einen Postkasten. Im Lauf von nur zwei Generationen brachten neue Arbeits- und Lebensverhältnisse dörfliche Lebensformen und Traditionen zum Verschwinden. Erst im nächsten Jahrhundert konnte das Sterben wenigstens gestoppt werden. Aber lebendig werden die Dörfer nicht mehr.
            Nach dem Kauf des kleinen Hauses erlebte ich, wie erst der katholische Kaufmannsladen schloss, dann einer der Schlachter, dann der Bäcker und so ging es immer weiter. Bis auch der Postkasten verschwand. Piet und Ans sind schon lange weg. Sie sind tot. Piet fuhr am Ende seiner Tage irgendwohin mit dem Fahrrad und wusste nicht mehr, wo er war. Ich habe ihn oft mit meinem kleinen Citröen gesucht und nach Hause gebracht.
            Ans sagte mir schon im Winter, dass wir im Frühjahr streichen müssen. Im April stand sie dann im Overall da, fegte, schmirgelte und strich und irgendwann wusste sie, dass nebenan immer neue Farben in Mode waren. Passte sie sich mit Grün an, pinselte ich die Haustür bordeauxrot. Irgendwann begriff ich, dass wir uns einigen sollten. Nein, dass ich fragen sollte, wie wir im Frühjahr streichen wollen. Damit die beiden Huisjes endlich gleich aussahen: cremefarbene Fenster- und Türrahmen. Die Haustüren dunkelgrün.
            Ans vermisse ich bis heute. Als Piet tot war, war Ans froh, die letzten Jahre endlich einmal in ihrem Leben nichts mehr tun zu müssen. Sie zog gerne in ein Altenheim. Da ich nicht noch ein Haus brauchte und bezahlen konnte, verkaufte sie an Fremde aus Leeuwarden. Neue Nachbarn. Es gab auf einmal Zäune zwischen den Grundstücken und Wegen. Es wurde vieles anders. Wie das eben so ist. Manchmal dauert es lange, bis Menschen sich aneinander gewöhnen, verstehen, was wie gemeint ist. Gemeinsam wurden dann die Dächer gedeckt, vorne die neuen Ziegel, hinten die alten, die, die noch ganz waren. Damals fuhren auch noch Alwine und Alfons nach Ee. Ohne sie wäre das Haus nie so gut renoviert worden. Ich selbst hatte in vielen Jahren außer dem Einbau der Dusche, einem selbst gebauten Schreibtisch und Rigipsplatten an einigen Wänden nicht viel Zustande gebracht. Alfons und Alwine legten Fliesen, Leitungen, besorgten einen Schmied, der Heizungsrohre durch das Haus zog, bauten ein neues Dach über der Bijkeuken. Neue Fenster. Das Dach von innen gedämmt und verkleidet. Mir kommt es vor wie eine andere Zeit, die ganze Familie schuftete damals zwei Wochen, bis das Haus endlich wirklich bewohnbar war. 
 

            Dieses Jahr starb nicht nur Alfons, sondern auch Ali Bruinja, die Mutter der Nachbarin, ist gestorben. Und da stand ich vor meinem Schreibhaus und heulte. Zwei Jahre älter denn ich war Ali. Ich sehe sie vor mir. Tschau Ali. Als ich mich einmal überhaupt nicht nach einer Operation bücken konnte, hast du das ganze Grünzeug aufgelesen. Bedankt. Es ist wohl allmählich besser nicht so viel zu planen und zu warten, sondern gleich sich zu bedanken und zu lachen.

 

Dienstag, 2. Februar 2016

Humaldawei: Wie im Frieden

Humaldawei: Wie im Frieden:  Nehmen Sie sich Zeit für diesen so berührenden Text von JMonika Walther: ©JMonika Walther             Wie im Frieden ...

Wie im Frieden



 Nehmen Sie sich Zeit für diesen so berührenden Text von JMonika Walther:



©JMonika Walther


            Wie im Frieden



Immer montags beiße ich die Zähne zusammen, bis der Kiefer schmerzt. Gleich, wo ich bin. In diesem oder jenem Dorf hinter dem Deich. Oder am Kanal Zuhause. Tränen kommen, weil die Toten zu Besuch sind, die Vergangenheit mich würgt. Keine runden Tränen, die über die Wangen rollen und filmreif sind, sondern zerdrückte Wassertropfen in den Augenwinkeln. Schreien will ich montags und lächle stattdessen in den Monitor des Computers. Schieße Katzen oder Vögelchen ab, spiele Doppelkopf online und schreibe Wortstücke. Die Toten der Familie treiben sich im Haus herum.
            Ich schaue niemanden an, auch nicht mein Spiegelbild. Meine Angst und meine Liebe sind in mir. Nach innen geht der Blick. Geh gerade; den Blick erst auf die Fußspitzen, dann vorbei an den Mündern und Augen der Erwachsenen, in den Himmel hinter die Wolken. Die Sterne, die Sterne bilden unsere Sinnesart. Und dann der Blick zurück auf die Fußspitzen. Ich habe den Erwachsenen niemals etwas über mich erzählt. Nicht meiner Mutter. Ihr vor allen anderen nichts.
Von dem Kind gibt es wenig Fotografien. Mit drei Jahren ein schönes kleines Mädchen mit langen rotblonden Locken. Danach biss das Kind die Zähne zusammen und schaute hinter die Himmelslinie. Stand stocksteif. Ohne Lächeln. Die Mutter, abwesend und kühl, ließ die Haare der Tochter kurz schneiden, der Mann prügelte und trank. Auf den Reisen war das Kind nicht dabei, sondern immer anderswo. Mann Frau am Lago Maggiore, Kind in England bei Verwandten. Eltern in England, Kind im Schwarzwald. Mutter in Hamburg, Kind in Haarlem. Kind in Hamburg, Mann und Frau in Liverpool. Und so weiter. Ich war das Kind ohne Eltern, mal das hübsche Mädchen, dann wütend. Allein. Mit meinem Stoffterrier habe ich geredet, ihm von der Welt erzählt, dem Bodensee, dem Nordmeer, dem Säntis und dem Schwarzwald. Nicht von mir. Im Traum saß ich mit einer roten Katze und meinem Terrier am Lagerfeuer. Die Katze hatte einen Schnurrbart. Wir hielten Stöckchen mit Kartoffeln ins Feuer. Ich habe mich oft im Bad eingeschlossen, um im Alleinsein allein zu sein und zu weinen oder zu wüten. Der Schmerz ist bis heute im Herzen und die Seele verbog sich. Ich verstand meine Seele nicht und verband sie nicht mit meinen Sinnen. Ich lernte tüchtig zu sein, um gemocht zu werden. Mit dem Abiturzeugnis in der Hand verschwand das Kind. Endlich.
            Heute ist Montagnacht. Es regnet. Hinter dem Deich und hinter dem Fluss fahren Schiffe nach Amerika. Ich trinke den letzten Schluck vom lauwarmen Gin. Die Eiswürfel sind schlierig geschmolzen. Atmen. Glückshüpfer. Draußen die nebeligen Schatten und ein bewegungsloses Licht. Glückshüpfer und die grauen nassschweren Schleppen des Glücks und der Wunschbäume.
Morgen war Dienstag. Ich packe einen Rucksack. Das erste Mal im Leben packe ich einen kleinen Rucksack. Wenn ich verloren gehe, genügt der Rucksack. Niemand bleibt lange im wirklichen Leben normal. Der Blick zur Himmelslinie. Das Zittern im Herzen.
            Was hast du?
            Nichts. Niemand kann auf die Frage den Mund öffnen. Was hast du? Nichts - ist die wahre Lüge. Und beruhigt alle. Nur die rote Katze und der Stoffterrier wissen die Wahrheit, deshalb sitzen wir still am Lagerfeuer. Die Liebe verborgen.
            Heute ist kein Montag. Im grauen Himmel fliegen weiße Gänse. Die Dokkumer Grootdiep ist randvoll. Die Bäche, Stichkanäle, die Zuider Ee laufen über. Das Schilf ist geschnitten. Eine Herde schwarzer Schafe wandert die Graskante entlang. Mitten unter ihnen Hunderte der schwarzen Blesshühner. Das Wasser der Grachten fließt schwarz. Die Erde ist schwarz. In den Furchen hocken Schwäne. Die Reisepläne sind durcheinander. Sie waren alle nicht Spanien. Sie blieben. Sie beginnen früher als sonst mit dem Nesterbau. Im Dorf Ee wird die Straße erneuert werden. Der historische Charakter soll sichtbarer, das Dorf zugänglicher werden. Ee will sich mit dem Flachsmuseum an der Wattentour beteiligen. Der Humaldawei soll sicherer werden. Früher war diese Durchgangsstraße mit Basaltsteinen gepflastert. Bei jedem Trecker wackelten die kleinen Häuser. Dann wurde die Landstraße mit Asphalt zugeschmiert. Nun also die Pläne für eine Erneuerung 2017 mit der Idee, dass jeder Tourist nicht nur Dokkum, sondern auch Ee, die historische Dorfansicht und das Flachsmuseum gesehen haben muss. Ein Versuch, auch wenn gleichzeitig immer wieder viele Häuser leerstehen und der letzte Schlachter seinen Laden aufgegeben hat. Aber es gibt auch immer wieder Neues und es lohnt sich Fryslân kennenzulernen, die weiten Himmel, das flache Land hinter den Deichen, die graue See, die Häfen.
            Wer genau hinschaut, sieht an einer der Grachten die rote Katze, den Terrier und mich an einem Lagerfeuer sitzen. Wir halten Stöckchen mit Kartoffeln ins Feuer. Wir geben auch was ab.


©JMonika Walther