21. Oktober 2016
Die
Haustüre abschließen. Mit fremdem Blick das Haus anschauen. Alles in Ordnung.
Ein Licht angelassen. Närrischer Schutz vor Einbrechern. Ein Rabe stolziert auf
dem Dach. Keine Chance für die Kolonie wieder in den beiden Kaminen zu nisten.
Schutzgitter versperren den Zugang. Die Kolkraben wollen sich damit nicht
abfinden. Sie sitzen auf dem Dachfirst und hacken an den Blechen. Die Hühner
stehen am Maschendraht. Kikkeriki. Äpfel und Rucksack auf den Beifahrersitz.
Das Ziel eingeben: Ee in Fryslân.
Ich fahre
weg. Vorbei am Dom, vorbei am Bäcker und der Tankstelle, vorbei am Klavierbauer
und vielen Einfamilienhäusern. Nicht einfach sie auf dem neuesten Stand zu
halten. Überall wird renoviert, ausgebessert, angebaut. Wenigsten der Vorgarten
neu gemacht. Kies oder Platten statt Rasen. Bäume werden gefällt, damit nicht
so viel Laub fällt. Dorf light. Alle werden älter. Die alten Fotografien zeigen
die Durchgangsstraße noch als Feldweg. Am Rand stehen Milchkannen. Früher.
Ich fahre
in den Nebel. Vorbei an Stoppelfeldern, umgepflügten Äckern. Ein Stück Land mit
Sonnenblumen. Verdorrter Mais. Vorbei an kleinen Höfen, die nicht die geringste
Chance hatten zu überleben, deren Immobilienwert ins Bodenlose gefallen ist. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's
achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit
gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Psalm neunzig.
Manchen Häusern ist die Mühe anzusehen, das ewige Nichtvorankommen. Immer zu
wenig Geld für die Plackerei bekommen. Bei einer Landgaststätte wechseln die
Besitzer jedes Jahr. So viele Hoffnungen: New America. In der Kurve.
Truckerstopp. Mittagsbrunch 10 Euro 50. Vorbei vorbei.
An
Bauernhöfen, die längs der Straße Spargel, Erdbeeren und Weihnachtsbäume
anbieten. An einer tristen Bar mit Prostutierten, gegenüber ein Bauernhof, der
sich auf antike Lampen spezialisiert hat. Ein anderer bietet Kutschfahrten und
Touren mit Planwagen an. Das Glockengießerdorf Gescher. Jeder Misthaufen und
jeder Mensch benötigt im 21. Jahrhundert ein Alleinstellungsmerkmal. Es genügt
nicht, dass Gescher ein schönes altes Dorf ist. War. Inzwischen ein Wohnort für
Leute, denen Münster zu teuer und zu voll ist.
Dann
die Autobahn. A 31. Richtung Emden. Entlang der braunen Schilder für
Sehenswürdigkeiten. Die Vechte. Der Vechte-Ems-Kanal. Schloss Ahaus, Schloss
Dankern. Die Grafschaft Bentheim. Festungswall Meppen. Festung Bourtange in der
Provinz Groningen. Wichtig für den achtzigjährigen Krieg, in dem die
Niederlande ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpfte. Achtzig Jahre. Drei
Generationen zu damaligen Zeiten. Von 1568 bis 1648 kämpfte die Republik der
Sieben Vereinigten Niederlande. Dann schieden die nördlichen Provinzen aus dem
Verband des Heiligen Römischen Reichs aus. Der südliche Teil der Niederlande
blieb bei Spanien. Im 19. Jahrhundert entstand dann das Königreich Belgien. Die
Festung Bourtange wurde im Dreißigjährigen Krieg immer wieder technisch auf den
neuesten Stand gebracht. Und auch Ersten Schlesischen Krieg 1740 bis 1742 wurde
diese große Festungsstadt mitten in der Moorlandschaft ausgebessert, ausgebaut.
Erst 1851 wurde Bourtange militärisch aufgegeben. Früher war also nicht alles
besser, weil die Menschen immer Kriege führen. Den Niederlanden brachten die
achtzig Jahre die Freiheit von der spanischen Besatzung und ein für immer
geteiltes Land.
Vorbei an der
Gedenkstätte Esterwegen. Fünfzehn Lager gab es im Emsland. 1933 entstand das
Konzentrationslager Börgermoor. KZ Esterwegen, Neusustrum; und viele kleine und
große Lager folgten. In der „Hölle am Waldesrand“ in Esterwegen wurde auch der
Häftling 562, Carl von Ossietzky, gequält. Im Emsland, in der Moorlandschaft,
erprobten die deutschen Faschisten ihr Lagersystem. Lange vor Auschwitz.
Vernichtung durch Arbeit, Hunger, Kälte, Schläge. Aus dem Moor sollte Ackerland
für zweitausendfünfhundert arische Siedler entstehen. 50 000 Hektar Land. Also
mussten gefangen genommene Bürger unter unmenschlichen Bedingungen Gräben
ziehen. In Diktaturen gibt es unzählige Gründe Menschen zu verhaften und aller
Rechte zu berauben. Das nützt wie immer dem Kapital und denen, die sich zum
Volk und Verkündern der einzigen noch geltenden Ideologie erhoben haben. Alle
Arier sind dumme Blondies und haben Angst vor den Schwarzhaarigen. Sie wissen
es nur nicht.
Die A 31.
Schnurgerade führt sie ans Nordmeer. Entlang der Autobahn Mastanlagen. Händler
für Autos, Traktoren und Wohnwagen. Firmen für Metallbauten, Verpackungen.
Outletbunker. Kleine Bauernhöfe. Moore, Moorseen. Ein Moormuseum. Die Fahrt von
Hiddingsel, einem Dorf im Münsterland, bis in den Humaldawei in Fryslân dauert
drei Stunden. Früher fuhr ich mit einer Citröenente bei Gronau über die Grenze
nach Enschede. Weiter nach Hengelo, Almelo, Richtung Nijverdaal. Dort war
Pause. Ein Tostie, ein Bier, ein Genever. Dann weiter Richtung Ommen,
Hoogeveen, Drachten. In Kollum einkaufen, dann über die Dokumer Nieuwe Zijlen.
Durch Engwierum noch, dann angekommen. Fünf Stunden unterwegs. Im Winter erst
einmal den Ofen angemacht. Da gab es noch keine Heizung, kein Internet, kein
Fernsehen. Die Renovierung des kleinen Hauses von 1898 war mangels Geld stecken
geblieben.
Nach diesem
Früher wurden noch viele Strecken ausprobiert, über Meppel und Heerenveen,
Zwolle und Appelcha. Immer neue Autobahnen entstanden. Landstraßen wurden
ausgebaut. In einem halben Jahrhundert verändert sich viel. Und der schnellste
Weg war nicht immer die schönste Route. Schließlich die A 31. Schließlich ein
schnelles Auto. Kein Tostie, Bier und Genever in Nijverdaal. Kein Herumbummeln.
Früher schien mehr Zeit öfter stillzustehen. Früher. Ja, früher war alles
besser, sagte meine Tante in Leipzig und meinte die Weimarer Zeit, die Zeit vor
den Nazis und vor der Emigration. Zu dem Davor kam mit den Jahren immer mehr
dazu: Vor der Rückkehr aus England, bevor die DDR entstand. Vor dem Mauerbau.
Danach war dann alles zu spät. Die Familie wieder zweigeteilt.
Neben der
Autobahn fließt die Ems. Von Hiddingsel nach Emden. Bis in die Nordsee. Bei
Ditzum. Da war ich noch nie, weil ich ja schnell fahre und nicht mehr mit dem
Auto herumbummle. Ich fahre los und komme an. Ich schaue rechts und links, auf
die Kilometer und die Geschwindigkeit. Überlege, wohin ich fahren könnte, aber
halte Spur. Nach Verlassen der A 31 wird die Versuchung immer größer, woanders
hinzufahren. Und blühn einmal die Rosen, ist der Winter vorbei. Nur der Mensch,
weil er fortgeht, nachher kommt er nicht mehr. Nach Pieterburen. Wehe dem Horn.
Ich könnte nach Emshaven fahren oder nach Delfzijl. Ein Schiff besteigen. Nein,
ich halte die Richtung.
Nach der
Abfahrt Richtung Groningen wird das Land flacher. Die erste Möwe schwebt im
Himmel. Enten und Schwäne fliegen in wechselnden Dreiecken. Von Ferne taucht
der mächtige Turm der Martinikerk auf. Und ich sehe die Spitze der Aa-kirche am
Fischmarkt. Ich fahre über den Eemskanaal, den Noord-Willemskanaal, staune über
die architektonischen Kunststücke der Stadt. Die dicke Betonkette um den Sitz
der Industriemanager. Im Zweiten Weltkrieg wurde viel zerstört. Drei Tage
dauerten im April 1945 die Straßenkämpfe in der Innenstadt. Erst dann
kapitulierten die deutschen Besatzungstruppen, der Landstorm Nederland der
Waffen-SS und die belgischen SS-Einheiten. Kanadier mussten diesen heftigen
Kampf bestehen. Von der großen jüdischen Gemeinde, die die Emigration nach
Palästina und die Zusammenarbeit mit zionistischen Vereinen abgelehnt hatte,
überlebten nur wenige Menschen, untergetaucht und in Verstecken. Im Schilf. Von
Dreitausend eine Handvoll. Dreitausend, die als Niederländer gefühlt und gelebt
hatten. National orientiert. Bürger jüdischen Glaubens. Ermordet. Zu den
Sehenswürdigkeiten der Stadt gehört inzwischen auch eine Battlefield Tour. Zu
den Gräbern der toten Kanadier. Das Bevrijdingsfestival Groningen wird jedes
Jahr am 5. Mai gefeiert. Ein zweites Freiheitsfest gibt es am 28. August. In
jedem Jahr.
1672 wurde
Groningen vom Münsteraner Bischof Bernhard von Galen belagert. Fünf Wochen
lang. Der Bischof erhob Anspruch auf die halbe Provinz. Alles meins. Er hatte
den Beinamen Bommen Berend (Bomben Bernhard), weil er die Stadt während der
Belagerung mit fünftausend Bomben überzog. Am 28. August wurde die Stadt unter
Leitung von Oberst Carl von Rabenhaupt befreit, und das wird als »Gronings
Ontzet« heute gefeiert. Der Kampf gegen den Fürstbischhof von Galen ging noch
zwei Jahre weiter. So ließ er unter ungeheurem Aufwand die Vechte aufstauen, um
Coevorden unter Wasser zu setzen. Rabenhaupt war inzwischen Bürgermeister von
Groningen und Droste von Drenthe, sowie Gouverneur von Coevorden und kämpfte
bis 1674 gegen den Bischhof. Er befreite Nordhorn und Neuenhaus in der
Grafschaft Bentheim, dann Schüttorf. Zuletzt plante er noch, eine französische
Armee aus Grave zu vertreiben. Ein Ort, dessen Brücke über die Maas, am Ende
des Zweiten Weltkrieges sehr umkämpft war. Bei genauem Hinschauen ist in jedem
friesischen Landstrich, West- oder Ostfriesland, Nordfriesland, deutsch oder
niederländisch, viel Krieg und Leid zu entdecken. Aber weiter.
Vorbei an der
Winschoterdiep. Und Abfahrt von der Autobahn. Vorbei an Schafen und direkt auf
London zu. Dort an der Kreuzung links. In Sebaldeburen steht ein Haus, in
dessen Giebel groß London geschrieben ist. Längs der Wolddiep und zahllosen
kleinen Kanälen und Grachten, bei Gaarkeuken über den breiten Starkenborghkanaal.
Dann schnell vorbei am Bahnhof Grijpskerk. Jedes Mal schlägt das Herz dort
einen Takt schneller und jedes Mal bedauere ich, dass ich dort einmal einen
Menschen abholte und in mein Haus ließ. Ein Opfer, das alle in seiner Umgebung
instrumentalisierte. So durchlief auch ich die Phasen von der Helferin zur
Täterin, um als Opfer zu enden. Bevor ich dann endlich zurückschlug. Schnell
weiter Richtung Lauwerszee.
Vorbei an den
vielen Gasfeldern; überall wurde jahrelang gebohrt, neues Erdgas entdeckt. Die
Gefahren verschwiegen, bis es die ersten Explosionen gab. Vorbei an ruinierten
Bauernhöfen, an Häusern und Scheunen, die langsam zerfallen. Altes neben Neuem.
Vor vielen der kleinen Ziegelbauten steht ein Schild mit Te koop, aber wer
sollte kaufen. Das Neue entsteht direkt am Lauwersmeer, in Zoutkamp, am Hafen,
am wachsenden Campinggelände. Immer anderswo. Viele Häuser stehen leer, niemand
braucht sie. Die Dörfer schrumpfen. Das Sterben ist entsetzlich langsam und fast
überall stemmen sich die Bewohner tapfer dagegen. Sie kämpfen, um ein neues
Schild, eine neue Straßendecke, aber die Bankfiliale schließt. Die Läden, die
Kneipe.
Der Himmel wird
immer weiter, die Wolkenbilder ziehen in aller Pracht mit dem Wind. Die Erdlinien
zeigen, dass ich auf einer Kugel fahre. Das Herz und die Sinne gehen auf. Fast
bin ich da. Noch über die Dokkumer Nieuwe Zijlen, an der Schleuse und
dem alten Hafen vorbei. Früher lagen hier die Schiffe der Garnelenfischer,
heute gibt es ein kleines Café in der alten Hafenmeisterei: De Dream. Links
abbiegen nach Engwierum, weiter nach Ee. Ein erster fremder Blick auf das
kleine Haus. Ist die Nachbarin da? Aufschließen. Von Zuhause nach Zuhause
gefahren.
Früher, zu Beginn des 19.
Jahrhunderts, radelte die Droste auf einem Hollandrad vom Rüschhaus an den
Ufern der Ems entlang. In Groningen ging Annette ins Grote Gasthuis am
Fischmarkt, trank einige Gläser Oude Genever und aß große, gebutterte
Rosinenbrötchen, dann radelte sie wieder entlang der Ems zurück ins Münsterland
und fügte sich in die Konventionen ihres adeligen Standes. Ihr Spiegelbild
zeigte immer eine andere, das Dasein blieb ihr fremd, aber manchmal riss sie
aus, längs der Flüsse und Seen. So war das früher. Vielleicht.
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