Donnerstag, 10. September 2015
Humaldawei: Eine Fahrt im Hafen ist noch keine Reise
Humaldawei: Eine Fahrt im Hafen ist noch keine Reise: Eine Fahrt im Hafen ist noch keine Reise Irgendwer wird das gesagt haben, weil es so wahr ist. Zum Wehtun wahr, und doch nicht die ganz...
Eine Fahrt im Hafen ist noch keine Reise
Irgendwer wird das gesagt haben, weil es so wahr ist. Zum
Wehtun wahr, und doch nicht die ganze Wahrheit. Busfahrten und Butterfahrten
waren eine Zeitlang die einzigen Reisen für Menschen mit wenig Geld. Dass sie dabei
auch betrogen wurde, machte nichts, denn sie hatten etwas zu erzählen, sie
waren in Bewegung. Aufgeregt und froh wieder Zuhause zu sein. Diese
Betrügereien klappen nicht mehr mit denen, die heute alt werden. Nicht so
direkt.
Hafenrundfahrten
sind ein wunderbarer Ersatz für die große Reise, die oft geplant, aber nie
begonnen wird. Dann gab es früher noch die Rundfahrten in der DDR ohne
Landgang: einmal von Warnemünde nach Gedser und zurück. Und dann es gibt noch
die Rundfahrten zum Zweck sich zu betrinken, Getränke, Zigaretten einzukaufen.
Die Finnen überqueren so oft es geht die Ostsee nach Estland. Hin und her.
Lalla. Auf der Ostsee wird auf den meisten Schiffen viel getrunken, viel
gekauft. Die Skandinavier, die Trucker, die Weißrussen. Immer im Kreis. In
Ventspils auf die Fähre, zwei Tage trinken, kaufen, ein wenig sich nüchtern
schlafen, und mit dem Trucker entweder durch Deutschland, Polen wieder ins
Heimatland oder durch Deutschland, Dänemark, Schweden um die Ostsee und dann
wieder ins Heimatland. Danach die nächste Fähre. Der Warenverkehr aus und nach
Weißrundland, dem Baltikum, Polen und Skandinavien.
Für die
Zugvögel ist vieles einfacher, auch wenn sie immer erahnen müssen, wie hart der
Winter wird, wie lange er dauern könnte. In Fryslân beginnt jetzt die Zeit des
Sammelns und der ersten Abreisen in den Süden, aber viele fliegen nicht mehr so
weit wie früher. Es muss nicht mehr Marokko sein, Spanien genügt schon oder
Südfrankreich. Und umgekehrt kommen die ersten Zugvögel von hoch aus dem Norden
oder Osten. Hafenrunden fliegen über dem Lauwersmeer nur die Möwen. Sie haben
die anlegenden Fischtrawler im Visier. Auch wenn die Abläufe auf den Schiffen
inzwischen industrialisiert sind. Die Fänge längst ausgenommen und verpackt
sind, ein paar Reste fallen immer an, auch Fritten von den Touristen.
In den
letzten Wochen ist vieles, an das ich mein Leben lang glaubte, zerbrochen,
zerbröselt, hat sich als illusionär erwiesen. Fang ich in den Niederlanden an:
Geert Wilders ist bekannt als ein Fremdenhasser. Seine Mutter ist aus
Niederländisch-Indien, aber er mag keine Indonesier, vor allem keine Molukker.
Ich weiß nicht, ob er sich zur Hälfte selbst nicht mag oder wie er das mit sich
ausmacht und die niederländische Flüchtlingspolitik ist ja nicht allein an
diesem Rechtspopulisten festzumachen: Flüchtlinge in den Niederlanden können nur
noch – für eine bislang nicht festgelegte Anzahl von Wochen – eine
Minimalversorgung erhalten. Sie wird als „Bett, Bad und Brot“ bezeichnet. Nach
einer Nacht im Schlafsaal und dem Frühstück müssen sie wieder auf die Straße.
Wer sich selbst dann nicht mit der Rückkehr in die Heimat einverstanden
erklärt, verliert auch diese Unterstützung. Es sind nicht wenige Kommunen, die
diesen Umgang mit Menschen nicht in Ordnung finden.
Aber auch
sonst ist im Holland der Frau Antje viel an Liberalität, Offenheit, Neugier
verloren gegangen. Alles wird geregelt und die meisten sind froh, bei sich und
unter sich zu sein.
Am Lauwersmeer wurde die luxuriöse Landal Esonstad gebaut,
ein in sich abgeschlossener Ferienpark mit Häusern, Wohnungen, Kanälen,
Restaurants. Abgesperrt mit Schranken, nur mit Karte zu betreten. Wie ein
Parkplatz, also für Touristen. Es gibt auch ganze Orte, Strandabschnitte an der
Nordsee, in die Touristen gelenkt werden. Es macht Spaß an ihnen zu verdienen.
Pappbrötchen mit Hering. Gemocht werden die „Moffen“ und Fremden weniger als
vor Jahren. Vielleicht auch, weil es immer enger in den Niederlanden wird.
Vor über
vierzig Jahren brauchte Fryslân die Deutschen, die die kleinen kaputten Häuser
in den Dörfern kauften, weil viel zu viele leer standen. Die Struktur der
Bauerschaften und Dörfer verfiel dennoch, denn so einen langen Atem hatten die
neuen Einwohner nicht. In Ee hat der letzte Schlachter seinen Betrieb
geschlossen. Früher gab es direkt nebeneinander zwei Schlachter. Es gab zwei
Kaufmannsläden, einen katholischen und einen protestantischen. Einen Bäcker,
einen Mann, der Farben anmischte, Post konnte abgegeben werden. Eine Bank gab
es lange Zeit. Tulpen wurden angebaut. Der Nachbar von gegenüber brachte damals
immer große Sträuße in allen Farben: damit du keine von den Feldern nimmst.
Das Sterben
der Dörfer ist weltweit und fing schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Heute
gibt es in Ee einen Baubetrieb, eine Spedition, eine Landmaschinenschlosserei,
eine neue Schule, eine Tankstelle zum Selbstbedienen, einen Laden für Möbel.
Allerlei wird immer wieder versucht. Die anderen Deutschen sind weg. Genug
Häuser stehen leer, wie überall. Mich und das kleine Huisje, von Piet und Ans
Hiemstra gekauft für sechstausend Gulden, gibt es in dem Dorf seit 1973. Damals
waren die beiden Häuser noch ein kleiner Bauernhof. Elf Kühe in besten Zeiten.
Aber keine Heizung, kein fließendes Wasser. Sowieso keine Dusche.
Wenn ich
heute bei der Facebookseite Dorp Ee wegen Freundschaft anfrage, kennen sie mich
nicht. Und ein Nachbar über der Straße sagte: Es ist doch besser, wenn wir hier
unter uns sind und alleine das Sagen haben. Ich habe nie so gelebt oder so
leben können. Ich weiß nicht, wie das ist. Wir waren ja immer unterwegs. Kein
Ort meine Heimat. Keine Schule war meine Schule. Nur die Westfälische
Wilhelms-Universität in Münster und das Institut für Publizistik am Domplatz
waren meins. Und das friesische Dorf Ee war meins. Mein Dach über dem Kopf.
Inzwischen gibt es mehrere Dächer, aber Heimat? Da bleibt ein blinder Fleck. Je
älter ich werde, je mehr ich weiß, umso klarer ist zu fühlen, wo nichts ist.
Und über die in die Wiege gelegten zwei gegensätzlichen Sehnsüchte: Schweizer
Berge und Meer kann ich heute lachen. Naja, eine Träne läuft. Weil ich ahne,
warum überall die Einheimischen lieber unter sich bleiben.
Einige
Verwandte sind in die Niederlande emigriert, haben nach dort geheiratet. Und
ich habe nie gedacht, dass alle die dort oder hier in Hiddingsel (Dorf bei
Dülmen) etwas zu sagen haben sollen, von hier sein müssten. Aber natürlich
haben in Ee und Hiddingsel die Einheimischen das Sagen und das Neue bleibt
Sache der Zugezogenen.
In Fryslân
gibt es nicht viel Fremde, Flüchtlinge, wenig Zugezogene, aber allerlei
Zugvögel, dazu gehören die Schwärme am Himmel, die Segler, die Radfahrer.
Abgelehnte Asylbewerber werden in den Niederlanden inzwischen eher wie
Gefangene gehalten.
In den
vergangenen Wochen habe ich noch einmal viel über meine Großeltern
mütterlicherseits und die Urgroßeltern recherchiert. Und den Prosatext
„Fluchtlinien“ geschrieben. Unterm Strich kommt heraus, dass alle bis auf meine
Großmutter, davor und danach, auch die beiden Großväter, unentwegt unterwegs
waren, erst von Ost nach West, dann in den Rest der Welt. Nur Frieda Emma
Clara, meine Großmutter, ist aus Leipzig, ihre Eltern auch, aus Reudnitz und
aus dem Waldstraßenviertel. Seit Generationen Handwerker, Grafiker, Drucker,
Juden. Dann heiratete sie 1911. Carl Maria Wohlfahrt fiel im August 1914 bei
Reims. Da stand meine Großmutter mit ihrer kleinen Tochter. In ihrem
Kolonialwarenladen. Erst 1918 war dann ihr Erbanteil an der Idastraße geklärt.
Seitdem gibt es „Wohlraths Erben“. Zu drei Siebteln gehörte ich als Letzte
dazu.
Zurück zu
den Hafenrundfahrten. Es gibt sogar Angebote für XXL-Hafenrundfahrten. Nicht am
Lauwersmeer oder in Dokkum, aber in Hamburg, Köln und anderswo. Vor allem in
Hamburg. Mit Barkassen Meyer hautnah.
Eine
Lebensform zu erfinden, die nicht auf Eigentum, Besitz, Geld sich begründet,
wäre eine Aufgabe für die Politik. Neben die Produktion die Geschäftslosigkeit
zu setzen, wäre ein Anfang. Systeme sind vermutlich nicht zu renovieren, zu
verändern, sondern wenn müssten wir wie die ersten Franziskaner, dem System
radikal den Rücken kehren. Und alles was wir sehen und erleben, uns zu Herzen
nehmen.
© J. Monika Walther
Dienstag, 9. Juni 2015
Die Frage ist, ob Schafe Spiegel benutzen?
ein neuer Humaldawei-Text von J. Monika Walther:
Verwildertsein
mit dem Blatt Papier vor dem Mund. Also voll schweigsamer
Disziplin. So geht es zu im Schreibhaus in Fryslân. Schwäbischer Rosé aus
Erlenbach steht im Kühlschrank und ein Stapel Bücher liegt auf dem Tisch. Der
Rasen ist gemäht, die Hecke geschnitten, auch der Busch neben der Haustür. Ein
neuer Router ist angeschlossen. Der Fernseher mit dem Internet vernetzt. Die
ersten Wörter können gesucht werden. Da schreien die Krähen. Wie jedes Jahr
hängt ihr Nest hoch oben in den Ulmen. Bei Sturm schaukeln sie da wie in einem
Ausguck zu Schiff. Und schreien, schimpfen, schützen, flattern.
Ich fahre zum besten Coop in Anjum einkaufen. Koriander,
Paksoi, Limetten, chinesische Nudeln, Milch für den Kaffee morgens. Das Huhn
habe ich mitgebracht. Die erste Mahd haben die Bauern erledigt. Ein herber
Duft. Und auch das Scheren der Schafe. Aber anders als bei Shaun, dem
englischen Schaf, hatten die friesischen Wolleträger nicht die Chance, sich in
den Bus zu setzen und beim Dorffriseur zu sagen, wie ihre neue Schurmode
aussehen soll. Bei Shaun, dem Schaf (eine wunderbare Serie) ließen sie sich
kreuz und quer Muster und Frisuren scheren und lieferten eine große Tüte Wolle
ab. Der Bauer war’s zufrieden. In Fryslân sind nun alle Schafe schneeweiß und
nackt. Sehr nackt. Die Frage ist, ob Schafe Spiegel benutzen? Bei Shaun
besitzen sie Handys, Lippenstifte, Bürsten, Schweißbrenner, was eben so Schafe
brauchen, um eine Chance gegen und mit den Menschen zu haben, aber ich habe
keinerlei Einblicke in das Leben der Schafe auf den Wiesen um Dokkum. Sie
stehen und kauen oder sie liegen im Gras. Keine Ahnung von ihrem Weltbild, und
ob sie sich nachts heimlich Riesenpizzen bestellen und essen, am liebsten die
Oliven zuerst. Wurf mit Klaue in hohem Bogen ins Maul.
Nein, Shaun lebt nicht im Schreibhaus, aber er zeigt sich ab
an, winkt durchs Fenster, die Krähen schreien und ich suche Wörter zusammen.
Mein drittes Hörspiel war „Fluchtlinien“, ein Kriegspanorama und Traumentwurf;
jetzt versuche ich die Wege, die Linien meiner Familie aus Galizien, Schlesien
und Preußen zu rekonstruieren. Nach Leipzig, Berlin, Hamburg und weiter. Die
Fluchtlinien und Erfolge der Familie. Das ist mühselig und anstrengend, weil
ich nur Puzzlestücke habe, aber kein Bild im Ganzen. Die eigenen Erinnerungen
sind meist die der anderen und ich erinnere, wie ich leben will. Ich sehe ja
auch, was ich weiß. Was ich nicht weiß, sehe ich nicht. Es gibt wenig
Dokumente, Fotos in abnehmender Zahl seit der Jahrhundertwende bis 1940. Und
erzählte Erinnerungen, die nur teilweise wahr sind. Wenige Schnappschüsse in
Worten, die stimmen.
Wenn ich die blau gestrichene Milchkanne, die an einem Ast vor Schreibhaus baumelt, ansehe, weiß ich Geschichten: wie ich als Kind in Friedrichshafen nachmittags einen Liter Milch bei Fräulein Übele holte. Dem Fräulein war das Fräulein wichtig. Sie und ihre Schwester betrieben einen kleinen Lebensmittelladen: Reis, Nudeln, Zucker, Mehl in Schubladen. Die Butter wurde von einem großen Klotz abgeschnitten. Emmentaler gab es in dünnen Scheiben. Die Milch kam aus der Kanne vom Bauern, wie Bier hochgepumpt. Viele Düfte in dem winzigen Kellerladen. Vom Schwarzwälder Schinken und Schokoladenblöcken. Zu Rommelbachers wurde ich für die feineren Dinge des Lebens geschickt: Zwei Scheiben gekochten Schinken, drei Pfirsiche. Zum Bäcker für Teegebäck. Heute weiß ich nicht mehr, was das war. Vielleicht Sandtaler. Nein. Abends dann zu einem anderen Bäcker für das halbe Roggenbrot. Aber das Milchholen barg Gefahren. Auf dem Hinweg zum See hinunter war es keine Kunst, das Münzgeld in der Kanne über dem Kopf und im Kreis zu schwenken, aber zurück konnte es passieren, dass Bubi oder sonst ein Junge einem die Kanne entriss, um zu zeigen, wie gut er die Kanne mit der Milch kreisen lassen konnte. Was nicht garantiert war oder aus Absicht wurde so abgestoppt, dass die Milch zur Straßenpfütze wurde. Also schlich ich Umwege und über den Hafenbahnhof zurück, über die Gleise, denn meine Mutter hatte kein Verständnis für solche Unglücke. Als diese zerbeulte Kanne ausrangiert und weggeworfen wurde, nahm ich sie mit nach Münster und strich sie blau an. Milch holen konnte 1968 kein Kind mehr, die letzten kleinen Läden schlossen; offene Milch war unhygienisch. Bakterien, Schmutz. Keine Butter im Block mehr, keine Schubladen mit Reis und Nudeln, Mehl und Zucker. Alles musste abgepackt sein. Dafür können wir heute Antibiotika wie Würfelzucker lutschen und sie wirken nicht mehr. Multiresistente Keime sind die Schlagzeilen. Und Läden werden in den nächsten Jahren noch mindestens fünfzigtausend in den Städten geschlossen, weil wir online kaufen. Offene Milch gibt es heute nicht einmal mehr bei den Bauern.
Das Blatt Papier vor dem Mund: Ich erzähle und schreibe, um
meine Geheimnisse zu bewahren oder sie anderen auf die Seele zu legen, denen in
meinen Geschichten und Gedichten.
Lebenszimmer
Kein
Menschenalter
lebe
ich hier
sechs
Birken wuchsen
ein
Apfelbaum
zwei
Pflaumenbäume
zählbar
die Amseln kennen mich
Was
in mir denkt ist ohne Heimat
Wer
fragt nach dem Ort
Wenn
Fluchten und Mauern
Die
Wege versperren
Die
eigenen Dielen verbrannt
Die
Pässe beschlagnahmt sind
Eingeschlossen
im Fliehen
Koffer
packen
Fluchttasche
an der Tür
Acht
geben
Blicke
senken
Am
Zug nicht winken
Mein
halbes Alter
lebe
ich hier
nicht
in Leipzig,
nicht
in Hamburg,
nicht
da und nicht dort.
Berge
See Sand Wald
Immer
Sehnsucht nach -
Ein
halbes Alter
in
den nassen Wiesen
gewachsen
im Traum -
Zuhause
im Drosteland
Zwischen
den Blicken
Zwischen
Berg und See
Zuhause
dazwischen –
Die
Amseln kennen mich.
(Aus „Abrisse im Viertel – Gedichte 2010 – 2015)
© J. Monika Walther
Samstag, 18. April 2015
Das Kino der rosaroten Gefühle, Plattfische und Schweinebacke in Gelee
Wolkenschafe und Osterlämmer
Pünktlich zum Frühjahrsbeginn staksen die neugeborenen
Lämmer über die Wiesen, liegen fotogen neben ihren noch in dicker Winterwolle
verpackten Müttern. Die Farben haben gewechselt, später als in Westfalen: Aus
dem gefrorenen Blaugrau am Himmel und über den Feldern ist ein Schimmern
geworden. Hellgrün, hellblau. Die lehmige Erde ockerfarben, nicht mehr schwarz.
Osterglocken und Narzissen blühen an den Straßenrändern und in den Gärten.
Weiße und gelbe Sternanemonen wachsen in den Gräben. Das Wasser der Grachten
und Flüsse fließt nicht mehr braun und schwerfällig, sondern mit Wellenschlag
und Himmelsbildern. Schwäne, Gänse und Enten sind wieder da, zu Hunderten
besetzen sie die saftigsten Wiesen. Die Rasen vor den Häusern werden gemäht,
Bäume beschnitten.
Die ersten Fischbuden machen ihre
Klappen auf, stellen Tische und Stühle hin. Die Fähnchen flattern bunt. In der
Aalräucherei im Zoutkamper Hafen gibt es frische Krabben und Schollen, frisch
getrocknete Schaars, Aale, ein großer Butt liegt im Eis und Klieschen. Keine
Filets. Die Fische werden an ihren Gräten gegessen, mit Butter und Zitrone
beträufelt.
Hollands Plattfische sind mehr
als platte Fische: Seezungen, Flundern, Schollen, Rotzungen, Klieschen,
Hundszungen, Butt; da gibt es noch eine Welt zwischen Tradition und Moderne.
Hollands Baumkurren-Kutter mit ihren hoch aufragenden Bäumen, mit den scharf
geschnittenen Rümpfen, vorne höher als hinten, sehen aus, als wollten sie den
Himmel stürmen. Wenn es um den Plattfisch geht, gehören die niederländischen
Baumkurrenfischer inzwischen zu den Umweltschützern der Meere. Obwohl die
meisten der 570 Arten (eingeteilt in elf Familien) Plattfische von Norwegen bis
Portugal verbreitet sind, fischt die niederländische Fangflotte hauptsächlich
in der Nordsee: Doggerbank und Deutsche Bucht. Die Auktionen sind in Ijmuiden,
Scheveningen, Den Helder zu besuchen, die größten in Urk. Bieter gibt es viele
und gutes Geld wird verdient mit den Kisten voller platter geeister Fische.
Verarbeitet werden zu See und an Land die Plattfische sehr geschickt und
einfallsreich, in Urk von singenden Fischern, denn fast alle sind im
Kirchenchor.
Die größten
Krabbenauktionen der Niederlande finden an der Lauwerszee statt. Lauwersoog ist
der Heimathafen vieler Fangschiffe, auch aus Urk, Scheveningen, Ijmuiden.
Emden, Cuxhaven. Der Plattfischfang wird meist per LKW zu den Auktionen
weitertransportiert. Seit der Absperrung der Lauwerszee 1969 verloren die
Fischauktionen in Zoutkamp und bei den Dokkumer Nieuwe Zijlen von einem Tag zum
anderen ihre Wichtigkeit und es dauerte viele Jahre, bis sich wieder Geschäfte
und Tourismus entwickelten: Kleine Werften, Bootsanleger, Restaurants,
Räuchereien.
Im Frühjahr sind die Wolkendecken
aufgerissen und das Himmelskino Fryslân läuft von morgens bis in die
Dunkelheit: breite Wolkenberge, Wolkentürme, verschobene Perspektiven, in die
Ewigkeit gleitende Wolkenschafe, hüpfende Weißlämmchen. Alles vor blauer Farbe,
abends dann das Kino der rosaroten und blauroten Gefühle. Pazifik. Morgens
dahinsegelnde Wolkenschiffe, die immer mächtiger werden, ganze Flotten füllen
den Himmel. Ich schaue gerne zu, an der Lauwerszee, in den Häfen, dann fahre
ich zurück in den Humaldawei, schließe die Haustür auf, gehe hinein und stehe
vor diesen Bildern: Eine Fotografie aus Leipzig von 1947, Trümmer. So habe ich
meine Geburtsstadt kennengelernt. Ruinen, Granateinschläge in den schwarzen
Häuserwänden, aufgeschichtete Backsteine am Straßenrand. Daneben hängt ein Bild
aus Ostberlin von 1952. Alles ist grau und dunkel, ein Junge hüpft auf der
hohen Bordsteinkante, ein einziges Auto steht am Ende der Straße, ein Mädchen
mit Zöpfen und einer Milchkanne läuft in einen Kellereingang. So war das, als
ich sieben Jahre alt war. Milch wurde mit der Kanne geholt, die Nudeln, Reis,
Mehl, Zucker lagerten in Schubladen und wurden abgefüllt, die Butter von einem
Block abgeschnitten. Es gab eine Käsesorte. Die Leberwurst war dunkelgrau. So
war das. Die letzte dunkelgraue Leberwurst habe ich in Wustrow, während eines
Stipendiums im Künstlerdorf Schreyahn, gekauft. Ein Jahr war ich dort und
schrieb und schrieb und kaufte einmal die Woche diese Leberwurst. Zur
Erinnerung. Und einen Brocken Schweinebacke in Gelee. Meine Kindheit schmeckte
danach und nach runzeligen kleinen Äpfeln. Und dann nach Mostbirnen und
geräuchertem Speck. Wässrige Graupensuppen hasse ich bis heute. Graupensuppen,
Linsensuppen, dann folgten die Erbsensuppen. Ende der Fünfziger Jahre gab es
eine Knackwurst zu den Suppen. Oder eine Speckschwarte, in schmale Streifen
geschnitten.
© J. Monika Walther
Sonntag, 1. Februar 2015
Humaldawei: Im Fernsehen gibt es weder eine Himmelsdecke noch ...
Humaldawei: Im Fernsehen gibt es weder eine Himmelsdecke noch ...: Fryslân im Januar 2015 Der schiefergraue Himmel liegt wie eine weiche Decke über Feldern und Weiden. Über den Schafen...
Im Fernsehen gibt es weder eine Himmelsdecke noch Gottesaugen ...
Fryslân im Januar 2015
Der
schiefergraue Himmel liegt wie eine weiche Decke über Feldern und Weiden. Über
den Schafen mit ihrem zotteligen und schmutzigen Fell. Den Gänsen und
schneeweißen Schwänen. Über den Grachten und Kanälen mit ihrer hauchdünnen
Eisschicht. An den Rohrdommeln glitzern Kristalle. Fette Wintermöwen streifen
die graue Decke. Sie kommen von der See, schweben über dem Hafen, in dem sich
nichts bewegt. Keine Touristen, keine Pommes, keine Fischreste von den
Trawlern. Die Restaurants geschlossen. Wenig Fisch gibt es zu kaufen. In den
Räuchereien qualmen keine Öfen. Auch die kleinen Kutter liegen im Hafen:
Garnelen, ein paar Schollen und Schaars, Hering, kaum frisch geräucherter Aal. Reiher
und Kraniche schweben über die Bäche, stellen sich bewegungslos in Position.
In der
blaugrauen Decke reißen Löcher auf, hellgelb beleuchtet. Gottesaugen. Dann wird
die Luft sanft und weiß. Nebelwolken verhüllen Schiffe und Häuser, legen sich
übers Wasser und die Felder. Still wird es. Kein Mensch ist auf den Feldern,
nur die zotteligen Schafe, Enten, Gänse. Alle, die dageblieben und nicht in den
Süden geflogen sind.
Leise
verdämmert der Tag, Möwenschwärme überm Haus; sanftes Pfeifen ist zu hören: Ein
Sturm zieht über dem Meer auf. In der Nacht fegt er brüllend über die Felder,
schüttelt an Bäumen und Türen, für eine Sekunde wird es still, bis Graupel aufs
Dach schlägt. Auftakt und Trommelwirbel, dann Eisregen. Straßen und Dächer
glänzen. Aus dem Regen wird Schnee. Große Flocken. Am Morgen ist alles in einem
weißen Pelz eingehüllt. Keine scharfen Konturen mehr, keine Autos, die schnell
fahren. Keine Enten, die auffliegen, nur Spuren der hüpfenden Amseln, Nachbars
Katze, erste Schritte.
Im
Fernsehen gibt es weder eine Himmelsdecke noch Gottesaugen; im Fernsehen ist
abgebildet Krieg, Krawall, Mord, Totschlag, Pegida, Legida, Mügida, vernichtete
afrikanische Dörfer. Eine nigerianische Millionenstadt wird angegriffen.
Gräueltaten jeder unvorstellbaren Art, Lügen, Machenschaften von Politik und
Kapital, Kriegswünsche, Kriegsvorbereitungen. Krieg ist wieder vorstellbar.
Krieg kann wieder geschehen. Mobilmachung. Die Wörter sind da. Gesagt,
geschrieben, diskutiert in den Fernsehrunden. Da wird vom Krieg geschwätzt wie
sonst von Botox und Obdachlosigkeit. Alles eins. Hier, nicht mehr nur anderswo.
Ich gewöhne mich wieder daran und weiß, es gilt immer noch der Satz: Jede
Generation erlebt einen Krieg. In das Ende des 2. Weltkrieges wurde ich
hineingeboren. In eine zerstörte Familie, geflüchtet, emigriert, versteckt,
tot. Im Garten war noch Sterlingsilber vergraben. Die Welt war zerfallen.
Die Werte
einer zivilen Gesellschaft sind behauptet seit Napoleon, seit 1848, aber dieser
Schatz war damals nicht gewollt. Von der faschistischen Gesellschaft. Anders
ist es heute nicht: Die Werte müssen behauptet werden. Kultur kann nicht
relativiert werden. Der Islam gehört nicht zu Deutschland, aber alle Bürger
gleich welchen Glaubens, die Kippa ist dann so komisch wie das Kopftuch und
katholische und protestantische Bräuche. Oder wie Atheisten, die nichts glauben
und feiern, das ist mir komisch. Jeder Bürger, gleich welchen Glaubens,
verdient Achtung und Schutz aller, solange er sich im Rahmen unseres
Rechtssystems und unserer Staatsform bewegt. Für diese Gesellschaft, für diese
Werte müssen wir einstehen. Dazu müssen wir unsere Kultur weder relativieren
noch konservieren. Oder wollen wir in einer antidemokratischen Gesellschaft
leben, wenngleich wirtschaftlich erfolgreich? Dieses Modell wird in der Türkei,
in Russland, in China und in immer mehr Staaten gelebt. Werte müssen wir uns
als Ziel setzen, das dürfen wir, weil wir diskutieren, Konflikte demokratisch
austragen können.
Der späte Kapitalismus mit seinem
Wohlstand ist nicht anständig, ist schwerfällig, verführt und lässt zu viele
Menschen links liegen. Auch in Deutschland. Und noch ist der Besitz von Kapital
nicht an Verantwortung gebunden, werden nur teilweise Manager und Kapitalisten
zur Verantwortung gezogen, noch immer ist Bankenretten die erste Reaktion der
Politik.
Im
Fernsehen wird im Januar 2015 viel Erinnerungskultur (Wörter gibt es)
betrieben: siebzig Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. So viele
Worte, auch klare und politisch gute und gut Gemeintes, und obwohl jeden Abend
der Diktator Hitler zu sehen und zu hören ist, wissen immer weniger jüngere
Menschen um die Zusammenhänge und das Leid und die unmenschlichen Schandtaten
der Industrie, nahezu aller Betriebe und auch jeder Bauernhof hatte seinen
Zwangsarbeiter. Wurden sie angemessen entschädigt? Bis heute nicht. Nun sterben
sie, ohne dass sie bekommen, was ihnen zusteht. Und nicht der Staat muss
bezahlen, sondern die Nachfolger der Betriebe wie Siemens, die in Ravensbrück
sich der Häftlinge bedienten. Nicht nur dort.
Was sagt die alte Frau Abraham,
die vorsichtig ihre Füße in den Schnee setzt, die zwei Lager überlebte: „Jede
Lawine fängt mit einem Schneeball an. Es war nicht Hitler, es waren die
Nachbarn. Sie wollten alle teilhaben an einem großen Raubzug, an etwas ganz
Großem.“ Nichts anderes wollen die jungen Leute, die aus europäischen Ländern
in den Krieg ziehen, im Namen des Islam. Ihre Entscheidung, ihre Verantwortung.
In Deutschland gelten andere Gesetze und Werte.
© Text und Fotos: J. Monika Walther
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