Donnerstag, 10. September 2015

Eine Fahrt im Hafen ist noch keine Reise



Irgendwer wird das gesagt haben, weil es so wahr ist. Zum Wehtun wahr, und doch nicht die ganze Wahrheit. Busfahrten und Butterfahrten waren eine Zeitlang die einzigen Reisen für Menschen mit wenig Geld. Dass sie dabei auch betrogen wurde, machte nichts, denn sie hatten etwas zu erzählen, sie waren in Bewegung. Aufgeregt und froh wieder Zuhause zu sein. Diese Betrügereien klappen nicht mehr mit denen, die heute alt werden. Nicht so direkt.




            Hafenrundfahrten sind ein wunderbarer Ersatz für die große Reise, die oft geplant, aber nie begonnen wird. Dann gab es früher noch die Rundfahrten in der DDR ohne Landgang: einmal von Warnemünde nach Gedser und zurück. Und dann es gibt noch die Rundfahrten zum Zweck sich zu betrinken, Getränke, Zigaretten einzukaufen. Die Finnen überqueren so oft es geht die Ostsee nach Estland. Hin und her. Lalla. Auf der Ostsee wird auf den meisten Schiffen viel getrunken, viel gekauft. Die Skandinavier, die Trucker, die Weißrussen. Immer im Kreis. In Ventspils auf die Fähre, zwei Tage trinken, kaufen, ein wenig sich nüchtern schlafen, und mit dem Trucker entweder durch Deutschland, Polen wieder ins Heimatland oder durch Deutschland, Dänemark, Schweden um die Ostsee und dann wieder ins Heimatland. Danach die nächste Fähre. Der Warenverkehr aus und nach Weißrundland, dem Baltikum, Polen und Skandinavien.
            Für die Zugvögel ist vieles einfacher, auch wenn sie immer erahnen müssen, wie hart der Winter wird, wie lange er dauern könnte. In Fryslân beginnt jetzt die Zeit des Sammelns und der ersten Abreisen in den Süden, aber viele fliegen nicht mehr so weit wie früher. Es muss nicht mehr Marokko sein, Spanien genügt schon oder Südfrankreich. Und umgekehrt kommen die ersten Zugvögel von hoch aus dem Norden oder Osten. Hafenrunden fliegen über dem Lauwersmeer nur die Möwen. Sie haben die anlegenden Fischtrawler im Visier. Auch wenn die Abläufe auf den Schiffen inzwischen industrialisiert sind. Die Fänge längst ausgenommen und verpackt sind, ein paar Reste fallen immer an, auch Fritten von den Touristen.
            In den letzten Wochen ist vieles, an das ich mein Leben lang glaubte, zerbrochen, zerbröselt, hat sich als illusionär erwiesen. Fang ich in den Niederlanden an: Geert Wilders ist bekannt als ein Fremdenhasser. Seine Mutter ist aus Niederländisch-Indien, aber er mag keine Indonesier, vor allem keine Molukker. Ich weiß nicht, ob er sich zur Hälfte selbst nicht mag oder wie er das mit sich ausmacht und die niederländische Flüchtlingspolitik ist ja nicht allein an diesem Rechtspopulisten festzumachen: Flüchtlinge in den Niederlanden können nur noch – für eine bislang nicht festgelegte Anzahl von Wochen – eine Minimalversorgung erhalten. Sie wird als „Bett, Bad und Brot“ bezeichnet. Nach einer Nacht im Schlafsaal und dem Frühstück müssen sie wieder auf die Straße. Wer sich selbst dann nicht mit der Rückkehr in die Heimat einverstanden erklärt, verliert auch diese Unterstützung. Es sind nicht wenige Kommunen, die diesen Umgang mit Menschen nicht in Ordnung finden.



            Aber auch sonst ist im Holland der Frau Antje viel an Liberalität, Offenheit, Neugier verloren gegangen. Alles wird geregelt und die meisten sind froh, bei sich und unter sich zu sein.
Am Lauwersmeer wurde die luxuriöse Landal Esonstad gebaut, ein in sich abgeschlossener Ferienpark mit Häusern, Wohnungen, Kanälen, Restaurants. Abgesperrt mit Schranken, nur mit Karte zu betreten. Wie ein Parkplatz, also für Touristen. Es gibt auch ganze Orte, Strandabschnitte an der Nordsee, in die Touristen gelenkt werden. Es macht Spaß an ihnen zu verdienen. Pappbrötchen mit Hering. Gemocht werden die „Moffen“ und Fremden weniger als vor Jahren. Vielleicht auch, weil es immer enger in den Niederlanden wird.
            Vor über vierzig Jahren brauchte Fryslân die Deutschen, die die kleinen kaputten Häuser in den Dörfern kauften, weil viel zu viele leer standen. Die Struktur der Bauerschaften und Dörfer verfiel dennoch, denn so einen langen Atem hatten die neuen Einwohner nicht. In Ee hat der letzte Schlachter seinen Betrieb geschlossen. Früher gab es direkt nebeneinander zwei Schlachter. Es gab zwei Kaufmannsläden, einen katholischen und einen protestantischen. Einen Bäcker, einen Mann, der Farben anmischte, Post konnte abgegeben werden. Eine Bank gab es lange Zeit. Tulpen wurden angebaut. Der Nachbar von gegenüber brachte damals immer große Sträuße in allen Farben: damit du keine von den Feldern nimmst.
            Das Sterben der Dörfer ist weltweit und fing schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Heute gibt es in Ee einen Baubetrieb, eine Spedition, eine Landmaschinenschlosserei, eine neue Schule, eine Tankstelle zum Selbstbedienen, einen Laden für Möbel. Allerlei wird immer wieder versucht. Die anderen Deutschen sind weg. Genug Häuser stehen leer, wie überall. Mich und das kleine Huisje, von Piet und Ans Hiemstra gekauft für sechstausend Gulden, gibt es in dem Dorf seit 1973. Damals waren die beiden Häuser noch ein kleiner Bauernhof. Elf Kühe in besten Zeiten. Aber keine Heizung, kein fließendes Wasser. Sowieso keine Dusche. 




            Wenn ich heute bei der Facebookseite Dorp Ee wegen Freundschaft anfrage, kennen sie mich nicht. Und ein Nachbar über der Straße sagte: Es ist doch besser, wenn wir hier unter uns sind und alleine das Sagen haben. Ich habe nie so gelebt oder so leben können. Ich weiß nicht, wie das ist. Wir waren ja immer unterwegs. Kein Ort meine Heimat. Keine Schule war meine Schule. Nur die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster und das Institut für Publizistik am Domplatz waren meins. Und das friesische Dorf Ee war meins. Mein Dach über dem Kopf. Inzwischen gibt es mehrere Dächer, aber Heimat? Da bleibt ein blinder Fleck. Je älter ich werde, je mehr ich weiß, umso klarer ist zu fühlen, wo nichts ist. Und über die in die Wiege gelegten zwei gegensätzlichen Sehnsüchte: Schweizer Berge und Meer kann ich heute lachen. Naja, eine Träne läuft. Weil ich ahne, warum überall die Einheimischen lieber unter sich bleiben.
            Einige Verwandte sind in die Niederlande emigriert, haben nach dort geheiratet. Und ich habe nie gedacht, dass alle die dort oder hier in Hiddingsel (Dorf bei Dülmen) etwas zu sagen haben sollen, von hier sein müssten. Aber natürlich haben in Ee und Hiddingsel die Einheimischen das Sagen und das Neue bleibt Sache der Zugezogenen.
            In Fryslân gibt es nicht viel Fremde, Flüchtlinge, wenig Zugezogene, aber allerlei Zugvögel, dazu gehören die Schwärme am Himmel, die Segler, die Radfahrer. Abgelehnte Asylbewerber werden in den Niederlanden inzwischen eher wie Gefangene gehalten.
            In den vergangenen Wochen habe ich noch einmal viel über meine Großeltern mütterlicherseits und die Urgroßeltern recherchiert. Und den Prosatext „Fluchtlinien“ geschrieben. Unterm Strich kommt heraus, dass alle bis auf meine Großmutter, davor und danach, auch die beiden Großväter, unentwegt unterwegs waren, erst von Ost nach West, dann in den Rest der Welt. Nur Frieda Emma Clara, meine Großmutter, ist aus Leipzig, ihre Eltern auch, aus Reudnitz und aus dem Waldstraßenviertel. Seit Generationen Handwerker, Grafiker, Drucker, Juden. Dann heiratete sie 1911. Carl Maria Wohlfahrt fiel im August 1914 bei Reims. Da stand meine Großmutter mit ihrer kleinen Tochter. In ihrem Kolonialwarenladen. Erst 1918 war dann ihr Erbanteil an der Idastraße geklärt. Seitdem gibt es „Wohlraths Erben“. Zu drei Siebteln gehörte ich als Letzte dazu.
            Zurück zu den Hafenrundfahrten. Es gibt sogar Angebote für XXL-Hafenrundfahrten. Nicht am Lauwersmeer oder in Dokkum, aber in Hamburg, Köln und anderswo. Vor allem in Hamburg. Mit Barkassen Meyer hautnah. 


            Eine Lebensform zu erfinden, die nicht auf Eigentum, Besitz, Geld sich begründet, wäre eine Aufgabe für die Politik. Neben die Produktion die Geschäftslosigkeit zu setzen, wäre ein Anfang. Systeme sind vermutlich nicht zu renovieren, zu verändern, sondern wenn müssten wir wie die ersten Franziskaner, dem System radikal den Rücken kehren. Und alles was wir sehen und erleben, uns zu Herzen nehmen.


© J. Monika Walther


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