ein neuer Humaldawei-Text von J. Monika Walther:
Verwildertsein
mit dem Blatt Papier vor dem Mund. Also voll schweigsamer
Disziplin. So geht es zu im Schreibhaus in Fryslân. Schwäbischer Rosé aus
Erlenbach steht im Kühlschrank und ein Stapel Bücher liegt auf dem Tisch. Der
Rasen ist gemäht, die Hecke geschnitten, auch der Busch neben der Haustür. Ein
neuer Router ist angeschlossen. Der Fernseher mit dem Internet vernetzt. Die
ersten Wörter können gesucht werden. Da schreien die Krähen. Wie jedes Jahr
hängt ihr Nest hoch oben in den Ulmen. Bei Sturm schaukeln sie da wie in einem
Ausguck zu Schiff. Und schreien, schimpfen, schützen, flattern.
Ich fahre zum besten Coop in Anjum einkaufen. Koriander,
Paksoi, Limetten, chinesische Nudeln, Milch für den Kaffee morgens. Das Huhn
habe ich mitgebracht. Die erste Mahd haben die Bauern erledigt. Ein herber
Duft. Und auch das Scheren der Schafe. Aber anders als bei Shaun, dem
englischen Schaf, hatten die friesischen Wolleträger nicht die Chance, sich in
den Bus zu setzen und beim Dorffriseur zu sagen, wie ihre neue Schurmode
aussehen soll. Bei Shaun, dem Schaf (eine wunderbare Serie) ließen sie sich
kreuz und quer Muster und Frisuren scheren und lieferten eine große Tüte Wolle
ab. Der Bauer war’s zufrieden. In Fryslân sind nun alle Schafe schneeweiß und
nackt. Sehr nackt. Die Frage ist, ob Schafe Spiegel benutzen? Bei Shaun
besitzen sie Handys, Lippenstifte, Bürsten, Schweißbrenner, was eben so Schafe
brauchen, um eine Chance gegen und mit den Menschen zu haben, aber ich habe
keinerlei Einblicke in das Leben der Schafe auf den Wiesen um Dokkum. Sie
stehen und kauen oder sie liegen im Gras. Keine Ahnung von ihrem Weltbild, und
ob sie sich nachts heimlich Riesenpizzen bestellen und essen, am liebsten die
Oliven zuerst. Wurf mit Klaue in hohem Bogen ins Maul.
Nein, Shaun lebt nicht im Schreibhaus, aber er zeigt sich ab
an, winkt durchs Fenster, die Krähen schreien und ich suche Wörter zusammen.
Mein drittes Hörspiel war „Fluchtlinien“, ein Kriegspanorama und Traumentwurf;
jetzt versuche ich die Wege, die Linien meiner Familie aus Galizien, Schlesien
und Preußen zu rekonstruieren. Nach Leipzig, Berlin, Hamburg und weiter. Die
Fluchtlinien und Erfolge der Familie. Das ist mühselig und anstrengend, weil
ich nur Puzzlestücke habe, aber kein Bild im Ganzen. Die eigenen Erinnerungen
sind meist die der anderen und ich erinnere, wie ich leben will. Ich sehe ja
auch, was ich weiß. Was ich nicht weiß, sehe ich nicht. Es gibt wenig
Dokumente, Fotos in abnehmender Zahl seit der Jahrhundertwende bis 1940. Und
erzählte Erinnerungen, die nur teilweise wahr sind. Wenige Schnappschüsse in
Worten, die stimmen.
Wenn ich die blau gestrichene Milchkanne, die an einem Ast vor Schreibhaus baumelt, ansehe, weiß ich Geschichten: wie ich als Kind in Friedrichshafen nachmittags einen Liter Milch bei Fräulein Übele holte. Dem Fräulein war das Fräulein wichtig. Sie und ihre Schwester betrieben einen kleinen Lebensmittelladen: Reis, Nudeln, Zucker, Mehl in Schubladen. Die Butter wurde von einem großen Klotz abgeschnitten. Emmentaler gab es in dünnen Scheiben. Die Milch kam aus der Kanne vom Bauern, wie Bier hochgepumpt. Viele Düfte in dem winzigen Kellerladen. Vom Schwarzwälder Schinken und Schokoladenblöcken. Zu Rommelbachers wurde ich für die feineren Dinge des Lebens geschickt: Zwei Scheiben gekochten Schinken, drei Pfirsiche. Zum Bäcker für Teegebäck. Heute weiß ich nicht mehr, was das war. Vielleicht Sandtaler. Nein. Abends dann zu einem anderen Bäcker für das halbe Roggenbrot. Aber das Milchholen barg Gefahren. Auf dem Hinweg zum See hinunter war es keine Kunst, das Münzgeld in der Kanne über dem Kopf und im Kreis zu schwenken, aber zurück konnte es passieren, dass Bubi oder sonst ein Junge einem die Kanne entriss, um zu zeigen, wie gut er die Kanne mit der Milch kreisen lassen konnte. Was nicht garantiert war oder aus Absicht wurde so abgestoppt, dass die Milch zur Straßenpfütze wurde. Also schlich ich Umwege und über den Hafenbahnhof zurück, über die Gleise, denn meine Mutter hatte kein Verständnis für solche Unglücke. Als diese zerbeulte Kanne ausrangiert und weggeworfen wurde, nahm ich sie mit nach Münster und strich sie blau an. Milch holen konnte 1968 kein Kind mehr, die letzten kleinen Läden schlossen; offene Milch war unhygienisch. Bakterien, Schmutz. Keine Butter im Block mehr, keine Schubladen mit Reis und Nudeln, Mehl und Zucker. Alles musste abgepackt sein. Dafür können wir heute Antibiotika wie Würfelzucker lutschen und sie wirken nicht mehr. Multiresistente Keime sind die Schlagzeilen. Und Läden werden in den nächsten Jahren noch mindestens fünfzigtausend in den Städten geschlossen, weil wir online kaufen. Offene Milch gibt es heute nicht einmal mehr bei den Bauern.
Das Blatt Papier vor dem Mund: Ich erzähle und schreibe, um
meine Geheimnisse zu bewahren oder sie anderen auf die Seele zu legen, denen in
meinen Geschichten und Gedichten.
Lebenszimmer
Kein
Menschenalter
lebe
ich hier
sechs
Birken wuchsen
ein
Apfelbaum
zwei
Pflaumenbäume
zählbar
die Amseln kennen mich
Was
in mir denkt ist ohne Heimat
Wer
fragt nach dem Ort
Wenn
Fluchten und Mauern
Die
Wege versperren
Die
eigenen Dielen verbrannt
Die
Pässe beschlagnahmt sind
Eingeschlossen
im Fliehen
Koffer
packen
Fluchttasche
an der Tür
Acht
geben
Blicke
senken
Am
Zug nicht winken
Mein
halbes Alter
lebe
ich hier
nicht
in Leipzig,
nicht
in Hamburg,
nicht
da und nicht dort.
Berge
See Sand Wald
Immer
Sehnsucht nach -
Ein
halbes Alter
in
den nassen Wiesen
gewachsen
im Traum -
Zuhause
im Drosteland
Zwischen
den Blicken
Zwischen
Berg und See
Zuhause
dazwischen –
Die
Amseln kennen mich.
(Aus „Abrisse im Viertel – Gedichte 2010 – 2015)
© J. Monika Walther
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