Mittwoch, 4. Dezember 2013

Wilde Herzen genügen nicht








Herbstaugen



Linie fliegen die Gänse
Geschwungene Dreiecke durch graue Luft
Schilf steht braun die Boote an Land
Der Sturm treibt Wasser baut Städte
am Himmel schüttet aus

Was hast du in der Tasche
das der Wind nicht wegtreibt
Was habe ich in der Tasche
das ich nicht wegfahre
mit dem nächsten Zug
Wilde Herzen genügen nicht
weder zum Fliegen noch
für eine Bahnsteigkarte
die keiner mehr lösen muss
als Anker nicht einzusteigen aber
dabei zu sein auf dem roten Teppich
Winken Winken Lächeln
Endlich allein endlich weg

Nicht winken Hut aufbehalten
Handtasche fest im Griff
Augen in den Himmel
über den Bahnsteig
Diesmal kein Zug voller Kinder
quer durch Deutschland Holland
Über den Kanal endlich sicher
seelenallein als Gäste
zum Glück niemals eine Eisbrücke
über dem Kanal zum Glück
aber der Himmel voller Bomben

in Linie auf Engelland
keine Himmelsschrift der Gänse
und Schwäne oberhalb der Wasserlinie
das alte Jahrhundert  habe ich
in der Tasche
immer noch
diesen Bleiklumpen
Ein Schwanenpaar
grüßt aus dem Schilf
In der Tasche kein Brot
die alte Zeit das neue Jahrhundert
wann beginnt es?
Seit 1945 warte ich

A cup of tea?



Dr. J. Monika Walther

www.jmonikawalther.eu






Freitag, 11. Oktober 2013

Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes.






Die zwei Seiten der Medaillen. Wenn ich genug Medaillen, Münzen hätte, wäre es vielleicht egal, welche Zahl auf der einen Seite steht.  Und welche Machtsymbole auf der anderen. Ich könnte alle Seiten und Medaillen verteilen und austauschen nach Lust und Laune. Mit wenigen Münzen und dem Wissen, dass es zu allem und jedem mehrere Blickwinkel gibt, liegt unter den Pflastersteinen nicht nur Sand. Und aus dem Sand lässt sich auch kein Strand schaufeln. Uwe Johnson beginnt Band zwei der „Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ mit dem Satz: „Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt…“
Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes. Sagten sie in Amerika zu Gesine. Aber so einfach ist das nicht. Gesine kann keine Schiffspassage zurück nach Jerichow buchen, nach Mecklenburg. Nicht einmal das Weggehen aus der Ostzone, der Deutschen Demokratischen Diktatur, war Ende der fünfziger Jahre einfach. Denn weder das Reisen zwischen den Zonen war nach 1945 freizügig und einfach noch das Verlassen der DDR, deren oberste Genossen längst schon Grenzzäune hatten ziehen lassen und diese mit Soldaten absicherten. Volkspolizei.
Fast unmöglich war es, eine Fahrkarte nach Hamburg oder nach Amsterdam zu kaufen, wozu es mehr als eine Genehmigung benötigte. Die Genossen Bürokraten interessierte es nicht, dass dort Verwandte waren: Sollen doch wieder nach Hause kommen. Also aussichtslos. Also wurde schwarz gefahren. Kaum Gepäck. Immer in Bewegung. An den Bahnhöfen nach draußen. Das Kind lief im Zug hin und her. Das war der Auftrag. Immer alles im Blick. So kam ich das erste Mal von Leipzig über Hamburg nach Haarlem. Zu Onkel Jaap und seiner Frau, die nie wieder nach ihrer Flucht 1938 ein Wort Deutsch sprach. Auch nicht mit dem kleinen Mädchen. Immer in Bewegung bleiben. Durch Amsterdam mit dem Onkel gehen. Die Nordsee und den Strand von Zandvoort sehen. Das Ijsselmeer riechen. Auf einem Boot bis nach Lemmer fahren und bis zum Prinses Margriet Kanal. Fryslân. Auf einer Karte viele fremde Namen lesen. Viele fremde Wörter hören. Scheveninger Shepsbeschuit. Mit diesem Wort wurden deutsche Spione enttarnt. Ich lernte es mit meinen acht Jahren voller Hingabe. Mich sollte niemand entdecken. Nicht entdeckt werden war über Jahre eine wichtige Aufgabe in der Familie gewesen, und auch in der roten Diktatur ging es darum, die Gedanken bei sich zu behalten, nicht zu reden. Nicht erwischt zu werden. In Bewegung bleiben.
Fryslân. Seit vierzig Jahren schaue ich dort in den Himmel und kenne die Farben der Jahreszeiten. Und wie sich so vieles verändert. Zwei Seiten der Medaille. Inzwischen gibt es überall in Friesland kleine Erdgasfelder. Überall. Der wunderbare geschützte Naturpark um die Lauwerzee neben unzähligen Erdgasfeldern der Gasunie und Nam. Die Bauernhöfe und kleinen Dörfer und Bauernschaften neben der Kunststadt für Touristen an der Lauwerzee. Die Dörfer ohne Kneipe, Pfarrer, Laden, Postkasten, Tankstelle, daneben für die Touristen Anlegestellen, Restaurants, Parkplätze, Fischbuden, Schnickschnack für ein paar Sommermonate, aufgeschüttete Strände an der Lauwerzee, neue Kanäle. Demnächst kann vom Ijsselmeer nach Berlin per Motoryacht gefahren werden. Das Alte kommt in kleine Museen: So war es früher.
Wenn der Sommer vorbei ist, werden Borgers in Kisten gestapelt, die Zuckerrüben auf die kleinen Parkplätze gekippt; die Fischbuden klappen Wagen und Stühle zusammen, winterfest; viele Restaurants öffnen nur noch am Wochenende, nur die ‚Chinesen’ halten immer durch, denn Bami und Nasi mit Spiegeleiern wird immer und überall von allen gegessen, alle anderen stellen ihre Schilder in den Hinterhof. Wenn Herbst leuchtet die Sonne in warmen Farben, die Wolken türmen sich zu Segelschiffen zwischen denen die Dreiecke der Gänse, Enten und Schwäne fliegen: Gehen wir oder bleiben wir noch ein paar Wochen? Die Äcker zeigen ihr kräftiges Braun, Kohlköpfe und Lauch wachsen noch, die Hortensienbüsche verlieren ihre Farben, aber die Bäume strahlen in der Sonne. Die Landschaft ist voller Beruhigung und Geborgenheit.
Aber es gibt die andere Seite der Medaille: Wenig Arbeit, Unruhe in all den Häusern, die verkauft werden müssen. Die alten Dörfer sind Gerüst, das bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Boote und Touristen wieder kommen, halten muss. Unter dem Asphalt im Humaldawei liegen die uralten Basaltsteine und darunter fließt Wasser.


© J. Monika Walther

Donnerstag, 1. August 2013

Friesland. Zeitengang



 


 Jetzt ist August. 
Ich denke an Friesland, an den Geschmack der Freiheit,
ich schreibe an einer so anderen langen Geschichte wie J. Monika Walther, aber ein wenig haben die Geschichten gemeinsam:
Dokkum
Huijse
Erinnerung



 

 

Zeitspaziergang


Die Landschaft blass, der Lehmboden noch hell. So war es im friesischen März. Keine Schwäne, keine Weißwangengänse. Letzte kleine und dünne Eisschollen, die in den Grachten und Gräben hin und her schaukelten; dazwischen Enten. Wenige Schafe auf den Wiesen, in dickem Winterfell eingehüllt. Der Himmel fahl mit Schieferstrichen. Auf den Feldern wiegen sich dunkle Gerippe: die Sonnenblumen vom letzten Jahr, Kohlstrünke und alte Lauchstangen. Nichts blüht. Das Wasser schwappt grau und braun. Ein kühler Nebelschleier verbindet sich mit dem Sonnenschimmer. Über das Märzbild schiebt sich ein Versprechen – aber der Winter lässt nicht los. Es schneit im April. Enten, Gänse und Schwäne kommen, fliegen kreuz und quer, und wieder weg. Im Mai werden die Schafe geschoren, die Lämmer liegen auf den hellgrünen Weiden, die Tulpenfelder blühen. Stühle stehen vor den Bauernhäusern und Kneipen, und Schilder.  Bitterballjes. Käse.Borgers immer.

Früher war im Mai die Zeit des Streichens. Der dicke cremige Lack hielt Seele und Häuser zusammen. Abwaschen, abkratzen, schmirgeln, zweimal streichen. Heute sind die Einfassungen der Fenster und Dachrinnen, die Türen meist aus Plastik. Die sollen halten, hoffen die Älteren. Zumindest so lange sie noch leben. Früher kratzten und strichen Ans und ich je auf unserer Hausseite, erst vorne, dann hinten und Jahr für Jahr versuchten wir die Farben anzupassen. Damals musste es bei mir Farbe sein, also wenigstens blau oder grün, bordeauxrot. Ans versuchte es mit einer dunkelgrünen Haustür, da war ich aber bei Blau. Ich wurde älter und schlug schließlich ein mattes Elfenbeinweiß vor. Ja. Ich kaufte die Farbe und zwei Pinsel.

Piet und Ans waren sehr arme Bauersleute, mit elf Kühen in den besten Zeiten. Arm von heute aus gesehen, aber arm auch von mir aus gesehen, obwohl ich eine Studentin war, die sich nur arbeitend (Bibliothek), schreibend über die Runden brachte und auf den Gleisen Kohlen aufsammelte, Holz sammelte und immer mit dem Fahrrad unterwegs, um auf den Feldern Gemüse, Obst einzuheimsen. Und jeder Topf wurde genutzt, um Holundersekt anzusetzen. Aber ich war am Anfang und Piet und Ans am Ende. Heute weiß ich, wie sehr ich die beiden und den Zustand des Hauses als Bauernhof in Puppenstubengröße liebte. Es war ein Glück. Für Ans nicht. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie weg. Weg von dem stinkenden Ölofen, dem Kochen auf einem Gasbrenner, den ewigen Matschkartoffeln mit Soße und Kohl, dem kalten Wasser aus dem Kran. Keine Dusche. Für sie war ihr warmes schönes Zimmer in einem Alterheim in Dokkum ein Glück. Die neuen Nachbarn bauten als erstes Zäune, stellten und pflanzten den kleinen Hof voll, brachten Schilder an wie: Wachhund und Alarmanlage. Und ich sehe immer noch Ans in ihrem Overall und wir kratzen und streichen.

Im Juni werden die Farben warm, die Wiesen leuchten wieder grün, der Himmel scheint blau, die Wolken türmen sich bis in die Unendlichkeit zu Segelschiffen. Die Sonne ist warm und der Wind von der See duftet nach Schilf und Fisch. Im Juli blühen die Hortensien in allen Farben, rot bis blau. Satte Farben. Die erste Heumaat, die kräftige Würze ist in der Luft. Dasitzen und atmen, schauen. Hoj sagen oder Dag. Das ist ein Glück.

© J. Monika Walther



Samstag, 25. Mai 2013

Fryslân Meergewitter





Fryslân Meergewitter


Über dem Wasser jagen
die dunklen Wolken die Weißen
durch den Hafen zwischen die Schiffe
zu den Inseln und zurück über die Deichen
aufs Land schiefergrau die Ferne

dann zerbricht der Himmel
flammend eng
ohne Sterne
kein Horizont
schwarz ein Blitz schwarz
Keine Möwe fliegt

Eine dunkle Sekunde
hält der Himmel die Zeit an
die Wolkenschiffe stehen
Ein tiefes Grollen beginnt
Kriegslärm immer näher
Die Inseln im Meerestosen
Sturzflut auf Wasser und Land
Auf jeder Welle eine weiße Seele
Der Sturm fegt durch das Schilf
In der Ferne öffnet sich silbern
ein Trichter über dem Meer.
Eine Sekunde segeln die Schiffe
mit ihren Toten klingen die alten Lieder
dann pfeift der Wind über die Felder
das Nordmeer schimmert
Helle Risse im Himmel





Dr. J. Monika Walther
www.jmonikawalther.eu

Donnerstag, 24. Januar 2013

...dann dieser Abend

wer könnte hier gesessen und gewartet haben?





Als es dämmerte, verließ Emmi Thulin das Haus, mit einem leichten, beschwingten, mit einem aufrechten und stolzen Gang. Energie ging von ihr aus, und Kraft, all das hüllte sie wie ein wehender Mantel ein. Sie trug ein dünnes, wadenlanges Kleid, eins in der Art, wie sie heute nicht mehr modern sind. Es ließ ihre Schultern frei und Emmis Haut war hell und schimmerte, sie war nicht braun wie die vielen anderen in der Stadt, obwohl es schon lange ein warmer Sommer war und man sich am Fluss großartig bräunen konnte. Ihre moccafarbenen Riemchensandalen hatten einen kleinen Absatz, geschwungen, sie waren einmal in Mailand handgearbeitet worden. Der Leisten hatte den richtigen Schwung, um gut darauf gehen zu können. Ihre Haarfarbe war nicht sichtbar, ihr Haar war unter einem pompösen Strohhut versteckt, der Hut trug Blumen und Trauben, Blätter und obendrauf wippte beim Gehen ein knallbunter Kolibri.
Emmis Augen waren hinter dunklem Glas, Emmi trug die große Sonnenbrille und auch die war schon lange aus der Mode.

Natürlich fiel sie auf. Natürlich blieben Leute stehen, sahen ihr nach, aber sie lächelten dabei, denn Emmi sah fantastisch aus, war wie eine Erinnerung an die Vergangenheit, war ein Bild, eine Szene aus einem der altmodischen französischen Filme, die heute wieder neu entdeckt werden.
Emmi Thulin brauchte die Dämmerung, um zu sehen, sie brauchte die blaue Stunde des Sommerabends, um zum Fluss zu gehen, immer ging sie allein, immer trug sie dasselbe und es sah jedes Mal aus wie neu.

An der Stelle, wo der Fluss eine Biegung macht, ist eine Brücke und an dem Brückengeländer steht Emmi jeden Tag. Im Sommer. Im letzten, vorletzten und viele Jahre davor, ganz genau kann man nicht sagen, wie viele Sommer Emmi Thulin hier jeden Abend steht, sich über das Geländer beugt, ganz leicht, nein, nicht wie die Selbstmörder, sondern gelassen, entspannt und schaut zu der Biegung da hinten am Fluss. Wenn die Schatten länger werden und die Luft sich von Lärm, Schmutz, Worten und Seufzern und Gelächter gereinigt hat, lässt sie das Geländer los, geht, bis sie zu einer Treppe kommt, die nach unten, zum Ufer führt. Dort ist ein schmaler Weg, der von wucherndem Grünzeug fast verdeckt ist, hier kann man bis hinter die Biegung gehen. Wenn Schwalben über ihr gleiten, geht Emmi mit ihrem wippenden Kolibri diesen Weg. Niemand hält sie auf, niemand belästigt sie, sie ist ein Bild aus einem Bild.
Das Ende des Weges erreicht sie, wenn es mehr Schatten als Licht gibt, wenn das Wasser ins Dunkelblaugraue geht, das Ende des Weges zeigt; den Fluss, wie er mäandert, und eine winzige Bucht, die einen Platz für zwei Menschen bietet.
Hier setzt sie sich und keiner würde wagen, sie zu stören. Selbst die Kinder nicht.
Hier nimmt Emmi Thulin den Hut ab, legt ihn behutsam neben sich, hier lässt sie ihr Haar frei, langes, welliges, sehr graues Haar mit dunkleren und auch hellen Strähnen, dass ihr schmales Gesicht mit der markanten Nase umrahmt, hier nimmt sie die Sonnenbrille ab und niemand kann in diese leuchtend türkisblauen Augen sehen.
Während ihr Blick das Wasser absucht, sie sich nicht bewegt, als hätte sie Angst, diese spitzigen Wellen könnten sie verschlingen. Während sie steht, wartet sie auf den Mond, egal, ob er Sichel oder ein Kindervollmond ist. Manchmal beginnt sie zu singen, leise, eine hier nicht bekannte Melodie.
Und dann setzt sie ruckartig, hastig, den Hut wieder auf, nicht ohne vorher das Haar hochzustecken, zusammenzustecken, holt aus ihrer Handtasche, dieser beutelartigen, aus bräunlichem, weichen, fleckigen Leder, fleckig wie Tränenspuren ein meergrünes Etui, in dem die Sonnenbrille verschwindet. Fast wie auf der Flucht dreht sie sich um, eilt, hastet, stolpert den Weg zurück zur Treppe, rast hinauf, um dann mit nur etwas Spannung, nur etwas Hüftschwung, aber mit hochgerecktem Kopf nach Hause in die Judengasse zu gehen.
Guten Abend, Frau Thulin! Die Bäckersfrau grüßt freundlich.
Wieder ein schöner Tag, antwortet Emmi mit einer Stimme, die man kaum verstehen kann.

***

Wenn der Nebel über dem Fluss hängt, ihn umklammert, wenn Nässe sich in den Straßen ausbreitet, wenn herbstbunte Blätter ihre Farben verlieren, ein langweiliges Braun annehmen, ist die Sommer-Emmi nicht zu sehen. Im Herbst und im Winter kann man in den Läden der winkligen Gassen Frau Thulin beim Einkaufen sehen. Mantel oder Wetterjacke, Mütze, Haarsträhnen, die herunterhängen, sich gelöst haben, gleichgültiger Blick und gebeugter Gang.

***

Wer die Geschichten der Bewohner hier kennt, weiß auch ein wenig aus Emmis Geschichte.
Vor über zwanzig Jahren, vielleicht auch schon länger, erzählen sich die Leute an langen Abenden, war Emmi mit einem Mann, der 800 Kilometer südlicher wohnte, verlobt. Ein schönes Paar und so glücklich waren sie, seufzen die Älteren.
Und dann.
Dann dieser Abend. Da unten am Fluss, nahe der Bucht. Emmis Verlobter stieg in das Wasser, schwamm los, während sie sich auszog, um hinterher zu schwimmen. Das war nichts Ungewöhnliches, in diesem Fluss konnte man immer schwimmen, besonders an den Stellen, wo er wieder einmal um die Ecke bog, hier war er flach, erst in der Mitte wurde er tiefer, erst in der Mitte griff die heftige Strömung.
Während Emmi auf ihren Freund zu schwamm, sah sie, wie er schneller wurde, wie die Wellen ihn vorwärts trieben, bis er nicht mehr und nie mehr zu sehen war.

All diese Jahre trauert Emmi Thulin um ihren Liebsten, all diese Sommer geht sie hinunter zu Fluss, all diese Abende hofft sie, dass der Mann von der Strömung flussaufwärts getragen, geschoben wird, dass er zurück kommt.
Diese eine Hoffnung ist für sie immer noch stärker als ihr Kummer, als ihr Schmerz, seiner Liebe nie im Leben mehr begegnen zu können.

Monika Detering

www.monika-detering.de







Wilhelmina Pepermint


Hier wohne ich

immer wieder
schaue ins magere Gras
und über das Nordmeer
Wilhelmina Pepermint im Mund
Fischdiebe und kleine Mantelmöwen
segeln und trippeln im Hafen

immer wieder komme ich
schließe die Tür auf
höre das Einuhrläuten
ein Oranjepji auf den Tulpen
Gerookte palings ruft der Händler
Hoch ist der Himmel

immer wieder
wendet mein Sinn die Worte
kommt der Sommer
über die Warften
Kartoffelblüten und
Spiegelwellen
Touristen aufs Schiff

Immer wieder komme ich
schließe die Tür auf
träume dass ich den See quere
dass ich über den Säntis steige
hinab in die Leipziger Tiefebene
Mutter Vater finde Zuhause
Touristen aufs Schiff
Immer wieder wohne ich hier.


  Dr. J. Monika Walther



Sonntag, 6. Januar 2013

Der Kanzlerin glänzend Silvestergewand, frisches Biedermeier und Bitterballjes






Deutscher Schnittmusterbogen. Niederländisches Silvester

            Frau Merkel trug zu ihrer Ansprache im Fernsehen ein sehr schönes glänzendes Jackett. Auch alles, was sie sagte, war fein gesponnen, sogar der etwas langweilige Schluss, da musste eben das Nötigste über den Ernst der Lage ausgesprochen werden. Aber sonst war ihre Rede voller Wärme und Verständnis. Es war Jahresende, 31.12.2012. In nichts übertrieb sie, weder im Guten noch im Schlechten, sie lobte ihre Bürger, sie bat wie eine Staatspräsidentin um Zusammenhalt; wenn wir alle bei ihr und um sie blieben, und uns an den Händen hielten, würde alles gut. Sie erklärte die Lage, tröstete und spornte an, forderte aber Einsicht in das Notwendige, da wir noch nicht die Krise überwunden hätten. Sie vermied das Wort „alternativlos“, aber das hätte auch nicht zu ihrem glänzenden Jackett gepasst, da ja zeigte, dass es zu all den vielen Jacketts, die sie trägt immer noch ein anderes, eine Alternative, möglich ist.



            Alles wird gut werden, sagte Angela Merkel auf die ihr eigene protestantische Art, aber weil eben Jahresende war, glänzte ihr schönes Jackett, lächelte sie und entwarf sie ein hübsch zugeschnittenes Jahr 2013. Deutsches Biedermeier im besten Sinn: vernünftig und einsichtig sollen wir Bürger sein, beruhigt im Privaten leben (was wir die letzten Jahre ja taten),  - und doch zusammenhalten, aber an diesem Punkt gerät wie im echten deutschen Biedermeier das schön gerädelte Schnittmuster, der Entwurf für 2013 durcheinander: Ja, Deutsche lieben Sicherheit und Sauberkeit, das geht über Vieles. Wir sind nicht britisch trunken mit eigenem Kopf und nicht wie die Franzosen revolutionär bei allem, bereit zur Revolte, um dann die Autorität zu akzeptieren, aber auch nicht so unabhängig nordisch wie die skandinavischen Länder; wir wollen es schon ordentlich erklärt bekommen wie es weiter geht. Aber zunehmend machen Deutsche sich auch in alle geistigen Himmelsrichtungen ihre eigenen Gedanken über die sichtbar werdenden Probleme. So war es auch damals im 19. Jahrhundert: Vormärz und Biedermeier, Aufstände, neue Bündnisse und die Suche nach einer sicheren schönen Seite des Lebens.
            Wir mögen unsere Angela Merkel über alle Parteigrenzen hinweg, sie ist unser Staatsoberhaupt, aber wir können nicht alle diese hübschen Jacketts tragen, die Fingerspitzen aneinanderlegen und uns miteinander beruhigen. Wir sind auch beunruhigt und bleiben das, trotz der wunderbaren deutschen Schnittmusterbogen, die Adenauer, Heuss zeichneten, Ehrhardt und – ja Willi Brandt, der nahm aufs neue Maß und Helmut Schmidt ist bis heute einer, der uns alle Zusammenhänge erklärt. Mit Zigarette und weit größerer Komplexität und Lakonie als es Frau Merkel mit den aufeinander gelegten Fingerspitzen möglich ist. Aber er kann ja auch reden wie er will.


Wir sahen und hörten die gesamtdeutsche Silvesteransprache unserer Kanzlerin in den Niederlanden. Im Humaldawei. Zuvor fuhren wir kreuz und quer um die Lauwerzee, schauten Weißwangengänse, Kraniche (Flamingos entdeckten wir keine, aber ein ganzes Feld mit Schwänen, Hunderte). Wir standen am Nordmeer vor den Deichen, in den Häfen. Wir aßen Fritten, kauften Aale und Schaars in Zoutkamp.
            Vor der Aalräucherei lag der Kutter und die Beiboote des Fischers, immer wieder schaute er von drinnen nach draußen, aufs Wasser, zu seinen Booten; immer wieder kamen Leute kauften Flundern, Tongs, Aale (schmale kleine und fein geräucherte Aale), geräucherte rode Pons, zwei Männer tranken Biere aus Flaschen, redeten mit den Frauen, Mädchen, die im Laden arbeiteten.
            Schaars sehen aus wie sehr kleine Schollen und sind etwas weniger bunt. Dezent graufarben. Die obere Seite viel rauer. Kliesche ist der deutsche Name. Der Fischer und seine Tochter lächelten, als wir die Schaars kauften. Beifang. Fremde wollen so etwas nicht, aber wir saßen ja auch da und aßen Fritten, schauten über den Hafen, den ich noch nie so voller Fischfänger, Kutter, Seenotboote, Schnellboote der Wasserschutzpolizei gesehen hatten; nur wenige Segler. Silvester und der tobende Sturm, der heftige Regen.
            Kurz vor acht Uhr verschluckten wir uns noch an  weißgepuderten Olliebollies, aßen Heringshappen, Gurken und Bitterballjes, die zum Jahresabschied von der Wirtin ausgegeben wurden. Große Platten, dazu kleine Bierchen. Punkt zwanzig Uhr schlossen überall (außer in den großen Städten) die Kneipen und Restaurants. Offiziell. Alle gingen nach Hause, aber manche der kleinen Kneipen in den Dörfern ließen ihre Gäste durch die Hintertür wieder hinein. 

            Im Humaldawei wurde seit 24 Stunden geböllert, schwere Kanonenschläge, der Sturm komponierte daraus ein schweres Donnern, so muss 1945 die näher kommende Front an der Oder geklungen haben, der Kampf um die Seelower Höhen vor Berlin. Das dachte ich und auch, warum denke ich immer wieder so etwas. Das hört nie auf, da läuft immer ein zweiter Film in Herz und Kopf.
           



Dann wurden die Schaars gebraten, draußen auf dem Grill, im Regen. Nachbarn rundum winkten und lachten. Im deutschen Fernsehen Silvesterstadl. Oh nein, im niederländischen TV wie immer nichts Glattes: 

eine runde Moderatorin, ein alter Sänger, ein knitteriger Witzemacher, strubbelige Jungs, kunterbunt sowieso. Und wir hörten einen Holzschuhtanz, Janis Joplin, Leonard Cohen, die Bartoli, die Callas. Ein neues Jahr. 2013. Die Raketen über dem Dorf verwehten im Sturm. Überall wurden große Feuer angezündet. 2013.

© J. Monika Walther