Sonntag, 9. November 2014

J. Monika Walther: Nächstes Jahr in Jerusalem, und ein federloser Sommer





Nächstes Jahr in Jerusalem – der Satz, wenn er in der Verwandtschaft bei Besuchen und Festen ausgesprochen wurde, war immer in jeder Hinsicht ein vergeblicher Wunsch: In Erinnerung an eine vergangene Welt, an eine Familie, die es nicht mehr gab und als Ausdruck von ratloser Sehnsucht, denn niemand war je in Jerusalem gewesen, gefeiert wurde in Leipzig, in Berlin und Hamburg, die Erinnerungen galten Schlesien, Galizien, Preußen, Deutschland und Reisen in westliche Länder, aber nicht einem fremden Flecken irgendwo am Rand von Europa, in der Wüste. Jenseits vom eigenen Leben und Überleben, denn emigriert wurde nach England, Kanada, in die USA und die Niederlande, nach Burma und Frankreich, in die Schweiz. Preußen. Deutsche. Berliner. Leipziger. Die beiden Hamburger Onkels bauten Schiffe für andere, sie selbst wollten nicht weg aus Deutschland. Niemand wollte weg. Schon gar nicht nach Osten. Lieber nach Rotterdam oder Great Britain, in die neue Welt. Mit der Sehnsucht im Herzen nach dem Leben der Großeltern und Urgroßeltern, aber alle wussten: Diese Zeiten waren vorbei: Es ging anderswo auf der Welt weiter. 



Foto: ©Horst-Dieter Radke
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Nächstes Jahr in Jerusalem. Das ist alles nicht mehr wahr und alles vorbei, das war im letzten Jahrhundert. Aber immer wenn ich im Herbst in Fryslân bin und am Himmel die vielen Dreiecke der fliegenden Enten, Weißwangengänse, der Kraniche und Schwäne sehe, wie sie hin und her ziehen, sich eine Wiese suchen, dann wieder aufbrechen, sich nicht entscheiden, das Naturschutzgebiet rund um das Lauwersmeer zu verlassen, noch einen Tag warten, denke ich an diesen Satz: nächstes Jahr in Jerusalem. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist so. Nicht wegen des Bleibens oder Wegfliegen. Und wenn: in welche Richtung und wie weit? Nein, wenn sie da oben schnattern und rufen, wenn sich mehrere große Dreiecke, die miteinander geflogen sind, trennen, denke ich jedes Mal: Was rufen sie sich jetzt zu? Nächstes Jahr wieder hier in der Heimat oder nächstes Jahr ganz woanders? Jerusalem auf keinen Fall. Das Programm ist in den Köpfen der Enten nicht enthalten, bei den Älteren noch Tunesien und Marokko, aber heute kann auch schon Südfrankreich zum Überwintern ausreichen. Je weniger weit, um so schneller sind sie wieder da.
Manche der jungen jüdischen Deutschen haben es geschafft, in Deutschland als ihrer Heimat zu leben und doch jedes Jahr nach Jerusalem zu fahren, auf einen Besuch. Zur Vergewisserung. Ich fahre nach Amsterdam, in die Niederlande, nach Fryslan. Meine Vergewisserung. Meine Erinnerung in die Zukunft. Die erste Anlaufstation derer, die emigrierten: Hamburg oder irgendein niederländischer Hafen. Weiter weiter. Und wahr ist auch, dass im niederländischen Friesland kleine jüdische Kinder aus Nazideutschland überlebten, Haare gefärbt, pst, und dann liefen statt vier fünf Kinder auf den Höfen herum.

© J. Monika Walther





Foto: ©Monika Detering



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Federloser Sommer

Im Frühjahr Soldaten auf der Kuhwiese
Kinder aufgespießt in Kakteen
Fensterbänke voller Milch die Scheiben blind
Mäusedreck auf Brötchen und Fremde im Bett
Kein Hund will so leben er soll aushalten

Beim Mähen Abgründen ausweichen
In Zimmern ohne Türen ist er gefangen
Wer sind diese Kinder wer die Frauen
Schmutz auf Tischen und Feuer über den Feldern
Nie ist er Zuhause überall fremd

Im Sommer geht er Tag und Nacht
Treppen hinauf und quer über die Wege
Guten Tag sagt er und zieht seine Mütze
Wer sind diese Leute? Gehen wir nach Hause?
Ich muss ins Holz nach Kanada

Sommer ist. Er friert redet Tag und Nacht
Guten Tag sagt er fein sucht die Mütze
Er sucht Geld seine Frau die Kinder das Haus
Er geht in die Werkstatt nagelt Bretter schief
Schreiner ein guter Mann esst und trinkt

Sommer. Welcher Tag welches Jahr wo sind wir
Jetzt gehen wir nach Hause. Hier wohne ich nicht.
Missglücklich schaut er über die Kuhwiesen wohin
muss ich aufstehen muss mich anziehen viel zu spät
Wo gehe ich hin wo bleibe ich. Ich Ihr -

Draußen im Himmel im Holz schlag ich
im Schattenland zieh ich meine Mütze
guten Tag hier lebe ich mein Kaffee
mein Stuhl und Tisch. Eigene Dielen
unter Füssen und Seele. Guten Tag

(für Alfons Uhlending, der die besten Spiegeleier briet und einen wunderbaren Holzturm an unser Haus von 1898 baute, einen Turm, den das Amt für Denkmalschutz als vorbildlich lobte)

© J. Monika Walther


Montag, 14. Juli 2014

Heidi, die Schweiz, die Niederlande, der Filmproduzent und eine irrwitzige Geschichte









Heidi in den Niederlanden und an den Dokkumer Nije Silen

            Wer in Engwierum auf der alten Brücke steht, 1729 gebaut, die die Lauwerszee von der Dokkumergrootdiep trennt, schaut in zwei Landschaften: atmet im Sommer den herben Duft der Wiesen und den Wind vom Wattenmeer. Mit Fisch in der Luft. Durch zwei der drei Schleusenkammern wurden die Schiffe gehoben, durch eine Wasser aus dem Hinterland in die See gespült. 1969 trennte eine große Schleuse die Lauwerszee von der Nordsee. Die Waddenzee gehört inzwischen zum Weltkulturerbe. Neben der alten Brücke, die in den letzten Jahren wieder hergerichtet wurde, gibt es eine neue Schleuse. Wer will, kann vom Nordmeer über die Lauwerszee an Engwierum,  Ie und Eastrum vorbei nach Dokkum segeln oder tuckern. Vorbei an Anglern und einer alten Ziegelei.
            Heute sieht es an der alten Schleuse noch fast immer so aus wie früher: Die kleinen Werften arbeiten wieder; das Gebäude der Hafenmeisterei steht noch; aus der Seilerei ist ein Kunstcafé geworden; aber früher war da ein anderes Leben, das der Einheimischen und nicht jenes der vorbeifahrenden Touristen. Da wurden noch die Kähne in den Dörfern mit Torf und Getreide beladen und fuhren mit der Ernte der Bauern tagelang bis nach Leeuwarden. Wieder kamen die Fährleute mit Waren aus der Stadt und auch mit dem kostbaren Genever. Oude Genever und jonge. Heute gibt es Genever Cocktails. Aber heute hat in den meisten Dörfern auch der allerletzte Laden geschlossen, keine Kneipen mehr, keine Bankfiliale, ein Briefkasten alle zwei Dörfer. Dafür gibt es an der Lauwerszee eine Kunststadt und vier Strände, einen Campingplatz, Imbissbuden im Sommer – und ein großes, sehr schönes Naturschutzgebiet.
            Die Bücher der Johanna Spyri werden ab August mit Bruno Ganz als Alpöhi neu verfilmt. Heidi ist die berühmteste Schweizerin und hat es im Gegensatz zu vielen Schweizern schon als Mädchen aus der Eidgenossenschaft herausgeschafft. Bis nach Frankfurt. Das ist bekannt, weniger bekannt ist, dass die erwachsene Heidi auch die Niederlande besucht hat. Sie war sogar in Fryslân. Aber das weiß außer mir fast niemand. Nur noch eine Schweizer Autorin – S. Ciarloni, die in Fryslân über die Farben der Schweiz diskutierte.
Lange Zeiten war es ja eine Sache des Mutes und Glücks aus der Schweiz herauszukommen. Mit den Schiffen hat es nicht geklappt und früher waren Fußreisen für die meisten die einzige Möglichkeit um sich fortzubewegen. Dabei war die Hauptgefahr das schlechte Wetter, also das man den Weg, der aus der Schweiz herausführen könnte, nicht mehr erkannte und sich dann zwischen den Felsen und Schiefern verloren fühlte. Helfen konnte da nur das laute Singen aller Lieder, die man kannte, um wach zu bleiben und so doch noch die Chance zu wahren aus der Schweiz herauszukommen, ohne sich dem Gefühl der Einsamkeit zwischen all den Bergen hinzugeben und jede Idee von einem Leben anderswo sein zu lassen.
Es war Heidi, die als eine Pionierin des Fußmarsches und Alpentourismus, es wagte, die heimischen Berge zu verlassen, hinab zu gehen in die Täler, wieder hinauf zu steigen und endlich bei Schaffhausen und dem Wasserfall die Lücke zu entdecken, die ihr zeigte, wo es nach Norden ging, dem Rhein entlang, dem Rhein folgend, vorbei an den Schwarzwälderkirschtorten und dem Straßburger Münster, vorbei an Sauerkraut, Blut- und Leberwürsten, vorbei -  diesmal auch an Frankfurt, vorbei.
Heidi schritt aus, bis sie in dem Königreich der Niederlanden ankam. Und sie blieb nicht in den südlichen Provinzen, sie schaffte es bis nach Amsterdam und ließ sich dort nicht vom ungewohnten Duft der Coffee Shops verführen: Heidi folgte dem Klang der Glocken der Seefahrerkirche, dicht am Hafen. Da stand sie mit ihrem offenen Mund, den sie auch in all ihren Filmen trug und sie wusste, es würde noch viele, sehr viele Filme geben über ihren Fußmarsch hinaus aus der Schweiz bis in das Rotlichtviertel von Amsterdam. Heidi – die Schweizerin mit dem offenen staunenden Mund: Heidi strahlte.
Es dauerte nicht lange, da blieb ein Filmproduzent stehen und schaute an Heidi hoch. Man muss wissen, dass Heidi sehr groß gewachsen war, fast zwei Meter. Der Produzent bot ihr eine Rolle in seinem neuen Streifen „Der Untergang der Titanic vom Ägerisee“ an. Der Produzent wusste nicht, dass Heidi die berühmte Heidi war und Heidi sagte ihm nichts von ihrer Filmkarriere als Mädchen. Aber sie fand, dass sie perfekt in einen Film mit Schiffen, Untergang und Innerschweiz passte. Auch wenn sie nun  in Amsterdam Fuß fassen wollte. Arbeit finden und neue Bekanntschaften. Ein neues außerschweizerisches Leben, vielleicht sogar ein Nicht-schweizerisches, obwohl sie davon keine Vorstellung hatte, wie ein Leben ohne Schweiz sein könnte.
Heidi hatte sich bei der Begegnung mit dem Filmproduzenten in aller Hast eine Art Künstlernamen zugetan. Sie nannte sich Helene, abgeleitet von der Belle Helene, dem Dessert, das man in der Schweiz sogar nach einer gemütlichen Rösti noch serviert: Staldenschoggicreme und halbe, eingemachte Birnen. Sie dachte, dass der Name gut zu ihrer Figur passte. Schokoladenbraunes Haar und eine Figur wie, ja, wie die Frucht. Die Beine waren lang und sehr schlank, aber das Becken. Ja, das Becken machte aus ihr die Belle Helene.
Der Produzent hatte das gesehen. Genau das. Er fuhr mit Heidi zu den Dreharbeiten. Die Abschnitte, die auf dem See spielten wurden zuerst gedreht. Nicht in Ägeri, nein, sie drehten sie nördlich von Amsterdam im Ijsselmeer und auf der Zuidersee, der an Fryslân grenzt. So kam Heidi auch in dieser nördlichen Provinz herum. Und an einem drehfreien Nachmittag fuhr Heidi alias Helene mit dem Auto des Produzenten sogar bis zur Lauwerszee. Auch dort blieb sie inkognito und gab sich nicht als jene Schweizer Heidi zu erkennen, weshalb sie auch kaum sprach, nur einmal als sie im Hafen von Zoutkamp sich Pommes Frites und gebackene Scholle bestellte
Die ersten drei Tage der Dreharbeiten waren sehr anstrengend, denn Heidi fühlte sich nicht wohl auf dem kleinen Schiff, das mehr schaukelte als geradeaus fuhr. Da nicht viel Geld zur Verfügung stand, hatte sich der Produzent und Regisseur entschieden ein kleines Ausflugsboot zu mieten und gedreht wurde bei stürmischer See. Der Eigner war ein Fischer, der umgesattelt hatte und sonst mit seiner Silverwind Touristen herumfuhr. Der Fischer hatte eine Frau, die sonst immer mit dabei war und die Touristen an Bord bewirtete. Aber jetzt durfte sie nicht mit auf die Silverwind.
Das Problem war, dass des Fischers Frau dieser Belle Helene nicht über den Weg traute. Sie fing laut an zu zetern, als sie Heidi sah. Sie lief am Ufer auf und ab und störte die Kameraleute, die Vorbereitungen der Requisiteure. Sie störte aus vollem Herzen. Da nützte auch das Schreien des Regisseurs mit seiner Tüte nicht.
Der  Fischer fand das alles sehr lustig und amüsierte sich köstlich auf seiner Kleinausgabe der Titanic. Er genoss den Wirbel und hatte das Geld gerne genommen. Er genoss auch das Zusammensein mit Heidi alias Belle Helene und als er am dritten Drehtag in einer Pause mit Helene allein auf dem Ausflugsschiff war, überkam ihn die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Er löste die Leinen, ließ den Motor an und nahm volle Fahrt auf Richtung Richtung Zuidersee und Nordsee. Quer über das Ijsselmeer. Mit anderen Worten der Fischer war im Begriff die Belle Helene, also Heidi, in ein nichtschweizerisches Leben zu entführen. Nun war es an Heid eine Entscheidung zu treffen, wollte sie mit diesem ihr fremden Mann, in dessen Sprache sie nur das Hoj und die röchelnden Bruchlaute CH verstand, ein neues Leben beginnen? Wollte sie in einem Land leben, in dem die Linie des Himmels tiefer lag als die Wiesen und das Land unter dem Meeresspiegel? Und vor allem: Wo es keine Alpen gab und nicht eine einzige Alphütte; und auch keine duftenden Schokoladenbrocken.
Heidi überwältigte den Fischer mit einem Kuss, drängte ihn an die Reling und warf ihn über Bord. Dann wendete sie das Boot und lenkte es zurück in den Hafen von Amsterdam, in die Gracht vor der Central Station und bestieg einen Zug zum Flughafen. Sie flog zurück in ihre Schweiz und war glücklich, als sie die ersten Bergketten unter sich sah.
So ist das also mit mir, dachte Heidi alias Belle Helene: Ich kann durch halb Europa laufen und verliere nicht den Mut, ich kann Zug fahren und fliegen, aber die Berge verlassen, das will ich nicht. Ich werde niemals ein Schiff besteigen und in Halifax an Land gehen. Das werde ich nicht tun. Und ich werde mit keinem gehen, der nicht die Farben der Schweiz lernt. So kehrte Heidi klüger und mit mehr Fragen denn je in ihrem Herzen zurück aus den Niederlanden.
Und der Film?
Wurde dann nicht gedreht. Weil der Kanton Zug kein Geld für so Seich hatte und es die in den Niederlanden nicht einsahen, was ein Boot namens Titanic auf dem Ägerisee mit ihrer glorreichen Vergangenheit als Seefahrer zu tun hatte. Man fragte sich unter Königen, Prinzessinnen wie auch unter Fernsehmachern gleichermaßen, ob da einer die Niederlande fälschlicherweise als Eroberer der Schweiz darstellen wolle. Wer sollte denn heutzutage so etwas unterstützen? Wo war die politische Korrektheit zu finden? Da verlumpte der Produzent. Ihm und dem Fischer  blieben einzig der Traum. La Belle Helene. Sie aber blieb verschwunden. Weil sie ja Heidi war. Und nach ihrem niederländischen Abenteuer war sie beschäftigt mit der geplanten Neuverfilmung. Sie musste eine neue kleine Heidi finden.

© J. Monika Walther
Mail jmonikawalther@aol.com
Mobil 0173 6767767
Neustraße 28
48249 Dülmen-Hiddingsel

Dienstag, 18. Februar 2014

Humaldawei: ... mit flatternden Haaren am See und Fluss zu st...

Humaldawei: ... mit flatternden Haaren am See und Fluss zu st...: 2014-02-13       Im Februar in Fryslân. Im Humaldawei. Draußen Regen und Sturm. Drinnen: Aufräumen.  Und noch einma...

... mit flatternden Haaren am See und Fluss zu stehen ...








2014-02-13

      Im Februar in Fryslân. Im Humaldawei. Draußen Regen und
Sturm. Drinnen: Aufräumen. 
Und noch einmal die Idee: 
Emily Dickinson hätte der Droste geschrieben, vom neuenglischen Amherst ins Rüschhaus zu Münster oder
nach Meersburg am Bodensee - aber es gab damals noch kein Internet, keine Mails. Kein
Twittern, Bloggen und Skypen. Wer weiß, vielleicht hätten die beiden des Morgens mit einer SMS
einander bestärkt, keine Widerworte zu geben, still zu schreiben und ihre langen Gedankenstriche zu ziehen
für alles, was sie den gesellschaftlichen Verhältnissen widerstehend dachten und des Nachts ihre wilden
Gedanken geteilt und wie satt sie es hatten, um gemocht zu werden, Beachtung zu erhaschen, immer
wieder die braven Mädchen zu geben. Nicht zu lieben und mit flatternden Haaren am See und Fluss zu
stehen, stattdessen leise in ihren Räumen zu leben. Ohne kratzenden Lärm zu schreiben.
        
Wie wäre das heute? Ohne Mails, ohne Handy, ohne Facebook, ohne die ständige Teilnahme am Leben vieler und das Wissen darum, was im fernsten Russland, Grönland, Sizilien geschieht? Wenn Briefe Monate, Woche brauchten, um uns zu erreichen und während wir dann lesen, dass die Überfahrt nach Amerika gelang, ist der Schreiber längst in neue Gefahren verwickelt und die Liebste mit sonst wem verheiratet. Widerspruch sinnlos. Vielleicht steht er oder sie Jahre später wieder in seinem mecklenburgischen oder Hunsrücker Dorf, ohne ein Fernsehteam hinter den Büschen und staunt über die Veränderungen und auch darüber, wer auf die Rückkehr gehofft hatte und wer nicht. 
Wie wäre das, wenn eine Reise von Leipzig nach Hamburg wie nach dem Krieg mit dem Zug zwei bis drei Tage dauerte. Eine Fahrt vom Bodensee nach Münster war mit vier Tagen damals im Vergleich zu den Postkutschenfahrten der Droste zwischen Rüschhaus und dem Fürstenhäuschen in Meersburg schnell. Anstrengend war es nur nach dem Krieg ohne die entsprechenden Stempel für die Aus- und Einreisen in und aus den jeweiligen Besatzungszonen nicht kontrolliert zu werden, weder in den Zügen noch auf den Bahnhöfen.

Dies könnte Emily Dickinson der Droste schreiben: 
    
Wie die Hölle will.
Jetzt und immer.
Ein ländlicher Leichenschmaus.
Mit Scheu und Staunen
streiche ich über mein Laken
gerade die Matratze
- das Kopfkissen klein und rund.
Tapferkeit muss ich ablegen -
lieg ich bis zum Gerichtstag
zum gelben Sonnenlärm verwahrt.
Sitz ich und schreibe – bündle -
vernähe meine Gedichte.
Da lacht der Wind früh und mittags -

Mein Scharfsinn scheitert in Amherst.
Am Dach aus Stein am Baum aus Moos
lautlos an reifgrauen Echos und
marmornen Stapeln aus Zeit
an den versiegelten Polaren.
Da lacht der Wind am Himmel und
fromm vergeht das Jahr und ich – und ich
geh hin und her und im Kreis und in mir -
steif wenn Blicke durch die Ritzen suchen
Zart wenn andere mich erfinden.
Aber – mein Nest ist leer und ich -
entflogen. Mir -
Februar in Fryslân. Im Humaldawei. Die Schafe zeigen ihre roten, grünen und gelben Punkte, die ihnen auf die dicke Wolle gemalt wurden. Die Farben bestimmen ihren weiteren Lebensverlauf. Aber kein Schaf schaut sich oder den anderen dauernd auf den Arsch, nein, die Mäuler sind im nassen Gras oder sie liegen im Sturm, geschickt verteilt, in den Bodenwellen oder auf den geschützten Deichseiten. Die Kanäle, Bäche und Grachten sind vollgelaufen; auf den Feldern und Äckern stehen Wasserlachen. Enten fliegen Linien im schiefergrauen Himmel. Sie müssen nicht mehr weg. Es war richtig zu bleiben. Sie werden die besten Brutplätze finden. Die Weißwangengänse sitzen zu Hunderten in großen Kreisen auf den Wiesen, fliegen auf, suchen einen neuen Platz. Sehr große Schwärme, sehr viele. Gänse. Enten. Kraniche und Fischreiher stehen an den Bachrändern für sich. Die Schwanenpaare haben eigene Pläne.
            Nach dem Sturm wird der Himmel weit und leuchtet in Blau und einem warmen gelben Licht. Die Wolken sind weit weg geflogen. Ich stehe an der alten Schleuse bei den Dokkumer Nieuwe Zijlen und bin eine Sekunde glücklich.

© J. Monika Walther
www.jmonikawalther.eu
 



Samstag, 11. Januar 2014

Die Dorfkirche schlug zwölf Mal



31. Dezember 2013


Jahresende 2013. - Jahresanfang 2014. 



Im hell scheinenden Licht von Fryslân. Sonnenstrahlen leuchten zwischen den Wolken, zwischen den Schwärmen der Gänse und Enten. Sie fliegen hin und her in langen Linien. Sie verschieben ihre Reise nach Mallorca. Sie bleiben da. Sie knatschen. Sie sind still und bleiben an den Grachten hocken, als das Karbidschießen im Dorf beginnt. Ab acht Uhr, vorher schon überall in der Nacht. Im Fernsehen sah ich einen Film über die niederländische Flotte zu Zeiten des Marquis James Graham von Montrose, zeitweise Generalstatthalter der Niederlande, Sohn des Heinrich Friedrich v. Oranien und über Wilhelm II von Oranien, der als Herrscher der Niederlande und dann König von England später dann alles in Ordnung brachte: Zuvor tobten die Seeschlachten vor New York, vor der Niederländischen Küste, im Nordmeer. Spanier, Franzosen, Engländer und Niederländer: meins, meins, meins. Nein, meins. Die Spanier blieben irgendwann schließlich zu Land und zu Wasser in Spanien, die Franzosen hörten auf zu versuchen zu Lande in Spanien einzufallen, auch um Cassel gab es keine Schlachten mehr. New York übergaben die Niederländer den Engländern und bekamen dafür Surinam. Wilhelm von Oranien heiratete klug nach Great Britain und bedung sich aus, nach dem Tod seiner Frau, einer Marie, in England regieren zu dürfen. So wurde alles gut. Beim Karbidschießen aber zieht noch einmal Pulverdampf über die Dörfer und es klingt wie bei einer mächtigen Seeschlacht vor New York.



Im Fernsehen sah ich auch Frau Merkel, zwei Fahnen, Blumenschmuck und die Kanzlerin in gedecktem Goldjackett. Sie sagte, es kommt auf jeden Einzelnen an. Sie sprach ohne Rautezeichen. Die niederländische Königin Beatrix betonte vor Jahren in einer ihrer Ansprachen, dass die Overheid nicht alles regeln kann, dass jeder Einzelne sich um seine Nachbarn kümmern, die Augen offenhalten, Verantwortung übernehmen muss. Klang alles sehr streng und protestantisch reformiert. Die Ermahnung der Königin erreichte mich; die Kanzlerin gab sich Mühe, aber ich hörte die Subtexte dieser Regierung: Wer betrügt, der fliegt. Flüchtlinge sind unerwünscht, Einwanderer auch, selbst wenn die Industriebosse sagen: Wir brauchen Einwanderer. Immer möchten die Bewohner dieses großen Landes mitten in Europa lieber unter sich bleiben und immer möchten diese Deutschen anderen beibringen, wie das Leben geht: Wir erleben den Versuch einer Germanisierung über das Geld. Der letzte Krieg hat es nicht gebracht, warum nicht über Ökonomie anderen die Tugenden beibringen. Frau Merkel hat zum Schluss noch gelächelt und mit einem Auge gezwinkert – ich habe es gesehen. Verehrte Angie, ich bleibe trotz Zwinkern mit einem Bein in den Niederlanden, das ist mir bei meiner Familiengeschichte sicherer.



Kurz vor Mitternacht trat am Brandenburger Tor ein deutscher Untoter auf im schwarzen Mantel, mit Sonnenbrille und bleichen Haaren, junge Mädchen wippten mit Fähnchen zu einem Text wie: Der Knabe war so süß. Berlin 2014. Deutschland. Europa. Heino. Warum hat dann nicht lieber Herr Kohl dort auf der Bühne im Rollstuhl gestanden und gesungen: Kein schöner Land zu dieser Zeit? Oder alle zusammen: Der Mond ist aufgegangen.



Die Dorfkirche schlug zwölf Mal, im dünnen protestantischen Glockengeläut, der Himmel färbte sich in allen Regenbogenfarben. Die Seeschlacht zu Ee wurde im Karbonitschießen beendet. 2014. Die Ersten liefen über die Straße. Spät in der Nacht knatschten wieder die Gänse und Enten. Und da Sturm aufkam, flogen Möwen übers Haus.




      Und am 1. Januar gab es diesen Text: Was wäre wenn die Droste und Emily Dickinson sich gekannt hätten? Die Dichterinnen der Gedankenstriche, die weder lebten, wie sie wollten, noch alles sagen konnten – also Gedankenstriche:

Emily schreibt der Droste (erfunden):

Ich sag dir, was ich gezahlt. Hundert Jahre.
Ich sag dir, was ich bekomme. Ich lalle und kichere.
Ich sag dir, was ich gezahlt. Eine Existenz.
Ich sag dir, was ich bekomme. Haut abgezogen, Schlitze reingeschnitten und einen Himmelsblick.
Ich sag dir, was ich tue: Ich schaue von innen durch die Löcher in meiner Menschenhaut und reise jeden Tag quer über die Pole.
Ich sag dir, draußen vergeht das Leben und wir sitzen herinnen, gehen im Kreis und lassen uns den Atem rauben.



Die Droste wird ihr antworten. Im Konjunktiv. Mit Gedankenstrichen.



© J. Monika Walther