Donnerstag, 16. Januar 2020

Die Geschichte hat manchmal komische Augenblicke

2020-01-16

Fotografien als Trennung


Alte Bilder zeigen, wie Landschaften früher aussahen, wie Menschen sich kleideten. Wie Häuser und Wohnungen eingerichtet waren. Wie Städte und Dörfer sich veränderten. Alte Bilder trennen uns von Menschen und Orten, die wir zu kennen glauben. Auf den Fotografien sind die Großeltern, die Tanten fremd. Ihre Kleidung, ihre Blicke und Gesten. Die eingenommen Haltungen erzählen von unbekannten Geschichten und Leben. Auch die eigenen Eltern sind nicht zu erkennen auf den ersten Blick.
Häuser, Menschen, ja selbst die Landschaften sind vereinnahmt von einer Geschichte der Moden, des Geschmacks, dem Stand der Landwirtschaft und Industrialisierung. Vom Stand eines Fortschritts, bei dem es um immer schöner, größer und mehr geht. Um Renditen. Mehrwert und Gewinne. Oder die Bilder und Gesichter sind geprägt von Krieg, von Hunger und Fluchten. Von Not. Oder: von der Erschöpfung der Moderne, von der seelischen und physischen Ausbeutung. Von sinnlosem Leben im Luxus.
Geschichte nimmt Gestalt an, wenn man sie betrachtet. Und um sie zu betrachten und zu erfassen, muss man von ihr ausgeschlossen sein, schreibt Roland Barthes. Die Sache mit den Zeitzeugen sieht er kritisch. Sie können einen Aspekt, einen Eindruck, ihre Wahrnehmung beschreiben. Alle Berichte von Zeitzeuginnen, von Frauen, die erinnern oder Männern, die in einem Krieg vereinnahmt waren, ergeben noch nicht „die Geschichte“. Einen wahren Ablauf oder eine Chronik der Ereignisse.
Wir stecken gerade mittendrin: Ein iranischer General wird durch den Befehl des amerikanischen Präsidenten getötet. Ermordet. Danach feuert der Iran Raketen in den Irak. Auf militärische Stützpunkte. Und auf ein Flugzeug mit hundertsechsundsiebzig Passagieren. All das wird berichtet, als wüsste irgendwer, was da vorgeht. In den Köpfen und auf Erden. Wer will was? Erdogan schickt Soldaten nach Libyen, ergreift Partei. Putin unterstützt den angreifenden Kriegsgeneral. Die beiden Herren, im Irak Partner, sind nun in Libyen Gegner. Auch davon wird stündlich alles berichtet, als wüsste irgendwer irgendetwas. Eben wie Politik. Jeden Tag ist auch der Klimawandel ein Thema. Gestern das Schmelzen der Gletscher, heute die Erwärmung der Ozeane, morgen das Sterben der Arten zu Wasser und zu Land. Und auch wenn immer wieder das Wort historisch in jeder Nachrichtensendung beschworen wird, nichts von alledem ist Geschichte. Richtig ist, dass Vieles von dem, was passiert, seine Gründe in der Geschichte des Neunzehnten- und Zwanzigsten Jahrhunderts hat. Und im unzivilisierten und dummen Wesen des Menschen. Was jetzt geschieht, kann zu einem Teil der Geschichte sortiert werden, aber jetzt ist noch nichts Geschichte, geklärt oder wahr. Gleich, wie viele Nachrichten im Fernsehen in allen Sprachen in aufgeregter Tonlage gesendet werden.
In der Familie, in meiner eigenen Geschichte kann ich nur Bruchstücke zusammentragen. 
Ich kenne Leipzig vor Dreiunddreißig von Fotografien und Erzählungen. Gesehen habe ich als Kind meine Geburtsstadt in Trümmern nach dem Krieg, dann im Herbst 1961 nach dem Bau der Mauer und nach 1990. Über die alten Fotografien vom Augustusplatz, von der Idastraße, mit Großeltern und vielen Verwandten kann ich nur staunen. Alle Erzählungen zusammen ergeben nicht die Geschichte. Eher eine Art Labyrinth.
In vielem finde ich Linien zu meinem Leben, aber ich kann kaum erahnen, wie sie lebten. Wie sie sich fühlten. Ich bleibe getrennt von ihnen, auch wenn mein ganzer Tisch voll alter Bilder liegt. Sie wecken in mir eine Sehnsucht. Ich wäre gerne bei ihnen gewesen. Ich hätte gerne mehr von ihren Träumen gewusst. Ich würde gerne aus dem Labyrinth herausfinden.
Mehr weiß ich von einem anderen Land, von anderen Orten. Ich kenne Amsterdam, Haarlem und Zandvoort von kleinauf. Ich weiß um jede Veränderung an der Lauwerszee, in Dokkum und Ee – seit über fünfzig Jahren. Und bei fast jeder Fahrt von Hiddingsel nach Fryslân suche ich eine andere Strecke, andere Nebenstraßen und schaue, was verändert sich. Da sind erst die Bauernhöfe im Münsterland, von denen die meisten nicht überleben. Manche starten neu mit einer Gärtnerei oder freilaufenden Hühnern und Gänsen. Oder als Ferienhof. Natur zum Anfassen. Schlafen im Heu. Manche werden umgebaut, sodass Kinder und Enkel ein Zuhause haben.
Auch an der Autobahn A 31, hoch nach Groningen, verändert sich Vieles: Immer mehr Firmen siedeln sich an. Mit Wohnwagen, Traktoren, Gebrauchtwagen. Auf immer größeren Flächen. Speditionen. Die Moore im Emsland werden trockener. Groningen baut sich seit mehr als dreißig Jahren beständig um. Der Turm der Martinkerk ist zwar in dem städtischen Wirrwarr noch zu erkennen, aber der Stadtkern ist klein im Vergleichen zu den riesigen Flächen an verbrauchten Flächen für Autobahnen, Industrie und Firmen. Unbebautes Land und die Landschaften werden selbst in Fryslân immer weniger. Neue Kanäle werden gezogen und Baugebiete angelegt. Noch mehr Straßen. Die Betriebe legen sich in immer größeren Kreisen um die Städte und Gemeinden. So bleibt nur ein Rest Bauernland, das große Naturschutzgebiet an der Lauwerszee und die Dörfer, in denen gewohnt wird und die um ihr Überleben kämpfen, weil die Arbeitsplätze anderswo sind.
Jede Veränderung sehe ich und sei es, dass ein altes Haus, in dem früher eine Kneipe war, eingestürzt ist. Dass auf einem ehemals prächtiger Bauernhof langsam die Scheune und die Veranda zerfällt. Ich weiß, wie alles war und was es nicht mehr gibt, was neu ist, was wieder verschwindet, was versucht wird.
Ich weiß, wo früher der Käsehändler in Dokkum war. Einer der feinsten Läden, die ich je erlebte. Wie dieser Mann über seinen Käse sprach, als sei er keine Ware und müsste in großen Mengen an Touristen losgeschlagen werden. Und ich erinnere, wie er am Ende – Dokkum wurde in großem Stil umgebaut – seinen Laden aufgab. So traurig das Gesicht: „Diese Mieten kann ich nicht mehr bezahlen. Die Menschen kaufen im Supermarkt.“ Von den Supermärkten gab es immer mehr in Dokkum. Die kleinen Läden verschwanden leise. Irgendwann verschwand auch die alteingesessene Frieslandbank.
Zuiderbollwerk 1970
Dann war auch der Fischhändler weg, der ein Fischer war. Er öffnete, wann er wollte, stand vor der Ladentür, rauchte und verteilte frisch gefangenen Matjes, wie es ihm Spaß machte.
Ich weiß, wie früher, in den Sechziger Jahren, noch Lastkähne anlegten. Wie sie verschwanden, wie immer mehr Anleger für die Segeljachten und Motorboote der Touristen entstanden. Wie die Touristen das Stadtbild bestimmten, wie nach und nach Kneipen verschwanden, wie Dokkum eine feine Stadt für die Besucher wurde. Am Diepswal sind heute Terrassen ins Wasser gebaut, die bewirtschaftet werden.

 

 Ich weiß noch, dass früher selbst im kleinsten Haus eine Kaminumrandung eingebaut war. Auch wenn es keine Feuerstelle gab, sondern in der Vertiefung ein einfacher Ofen stand. In dem ehemaligen Knechtshaus in Ee war der Kaminsims und die Verkleidung bis zur Decke aus Holz sehr einfach gezimmert und angestrichen. Der schmale Ofen zog nie gut, hat aber viele Jahre das vom Strand gesammelte Holz verbrannt und die Stube gewärmt. Nach zwanzig Jahren und dem Einbau einer Heizung wurde der Vorbau abgeschlagen und ein Sofa nahm den Platz ein.
Schade war es darum, ebenso wie noch viel früher um die Schrankbetten der beiden Knechte. Daraus wurden eine Dusche und ein kleiner Arbeitsplatz. So geht das mit dem Fortschritt. Auch bei mir.


Die Geschichte hat manchmal komische Augenblicke und werden sie dann fotografiert, kann ein Lächeln entstehen aus der Trennung zwischen dem Wissen um Zeitenläufe, Moden und dem, was auf dem Bild geschieht. Denn Geschichte ist mehr als die Zeit, in der ich noch nicht auf der Welt war oder noch nicht die Welt wahrnahm. Die Fotografien schließen nicht nur aus, sie verbinden, wenn ich eine Linie ziehe zwischen dem, was ich sehe und dem, was ich weiß. Wenn ich die Trennung annehme und nichts besser wissen will.
Als in Dokkum der erste Selbstbedienungsladen eröffnet wurde, standen die Leute Schlange.


Wenn der Himmel sich in den Wellen und auf dem Meeresboden spiegelt, ist das Denken leichter. Meist aber ist der Himmel über mir gewölbt, dann bleibt das Denken anstrengend. Erfinden ist leichter, aber manchmal will ich das Denken aushalten und auch das Betrachten alter Fotografien, die die Grenzlinien aufzeigen.


© J. Monika Walther