Fryslân im Januar 2015
Der
schiefergraue Himmel liegt wie eine weiche Decke über Feldern und Weiden. Über
den Schafen mit ihrem zotteligen und schmutzigen Fell. Den Gänsen und
schneeweißen Schwänen. Über den Grachten und Kanälen mit ihrer hauchdünnen
Eisschicht. An den Rohrdommeln glitzern Kristalle. Fette Wintermöwen streifen
die graue Decke. Sie kommen von der See, schweben über dem Hafen, in dem sich
nichts bewegt. Keine Touristen, keine Pommes, keine Fischreste von den
Trawlern. Die Restaurants geschlossen. Wenig Fisch gibt es zu kaufen. In den
Räuchereien qualmen keine Öfen. Auch die kleinen Kutter liegen im Hafen:
Garnelen, ein paar Schollen und Schaars, Hering, kaum frisch geräucherter Aal. Reiher
und Kraniche schweben über die Bäche, stellen sich bewegungslos in Position.
In der
blaugrauen Decke reißen Löcher auf, hellgelb beleuchtet. Gottesaugen. Dann wird
die Luft sanft und weiß. Nebelwolken verhüllen Schiffe und Häuser, legen sich
übers Wasser und die Felder. Still wird es. Kein Mensch ist auf den Feldern,
nur die zotteligen Schafe, Enten, Gänse. Alle, die dageblieben und nicht in den
Süden geflogen sind.
Leise
verdämmert der Tag, Möwenschwärme überm Haus; sanftes Pfeifen ist zu hören: Ein
Sturm zieht über dem Meer auf. In der Nacht fegt er brüllend über die Felder,
schüttelt an Bäumen und Türen, für eine Sekunde wird es still, bis Graupel aufs
Dach schlägt. Auftakt und Trommelwirbel, dann Eisregen. Straßen und Dächer
glänzen. Aus dem Regen wird Schnee. Große Flocken. Am Morgen ist alles in einem
weißen Pelz eingehüllt. Keine scharfen Konturen mehr, keine Autos, die schnell
fahren. Keine Enten, die auffliegen, nur Spuren der hüpfenden Amseln, Nachbars
Katze, erste Schritte.
Im
Fernsehen gibt es weder eine Himmelsdecke noch Gottesaugen; im Fernsehen ist
abgebildet Krieg, Krawall, Mord, Totschlag, Pegida, Legida, Mügida, vernichtete
afrikanische Dörfer. Eine nigerianische Millionenstadt wird angegriffen.
Gräueltaten jeder unvorstellbaren Art, Lügen, Machenschaften von Politik und
Kapital, Kriegswünsche, Kriegsvorbereitungen. Krieg ist wieder vorstellbar.
Krieg kann wieder geschehen. Mobilmachung. Die Wörter sind da. Gesagt,
geschrieben, diskutiert in den Fernsehrunden. Da wird vom Krieg geschwätzt wie
sonst von Botox und Obdachlosigkeit. Alles eins. Hier, nicht mehr nur anderswo.
Ich gewöhne mich wieder daran und weiß, es gilt immer noch der Satz: Jede
Generation erlebt einen Krieg. In das Ende des 2. Weltkrieges wurde ich
hineingeboren. In eine zerstörte Familie, geflüchtet, emigriert, versteckt,
tot. Im Garten war noch Sterlingsilber vergraben. Die Welt war zerfallen.
Die Werte
einer zivilen Gesellschaft sind behauptet seit Napoleon, seit 1848, aber dieser
Schatz war damals nicht gewollt. Von der faschistischen Gesellschaft. Anders
ist es heute nicht: Die Werte müssen behauptet werden. Kultur kann nicht
relativiert werden. Der Islam gehört nicht zu Deutschland, aber alle Bürger
gleich welchen Glaubens, die Kippa ist dann so komisch wie das Kopftuch und
katholische und protestantische Bräuche. Oder wie Atheisten, die nichts glauben
und feiern, das ist mir komisch. Jeder Bürger, gleich welchen Glaubens,
verdient Achtung und Schutz aller, solange er sich im Rahmen unseres
Rechtssystems und unserer Staatsform bewegt. Für diese Gesellschaft, für diese
Werte müssen wir einstehen. Dazu müssen wir unsere Kultur weder relativieren
noch konservieren. Oder wollen wir in einer antidemokratischen Gesellschaft
leben, wenngleich wirtschaftlich erfolgreich? Dieses Modell wird in der Türkei,
in Russland, in China und in immer mehr Staaten gelebt. Werte müssen wir uns
als Ziel setzen, das dürfen wir, weil wir diskutieren, Konflikte demokratisch
austragen können.
Der späte Kapitalismus mit seinem
Wohlstand ist nicht anständig, ist schwerfällig, verführt und lässt zu viele
Menschen links liegen. Auch in Deutschland. Und noch ist der Besitz von Kapital
nicht an Verantwortung gebunden, werden nur teilweise Manager und Kapitalisten
zur Verantwortung gezogen, noch immer ist Bankenretten die erste Reaktion der
Politik.
Im
Fernsehen wird im Januar 2015 viel Erinnerungskultur (Wörter gibt es)
betrieben: siebzig Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. So viele
Worte, auch klare und politisch gute und gut Gemeintes, und obwohl jeden Abend
der Diktator Hitler zu sehen und zu hören ist, wissen immer weniger jüngere
Menschen um die Zusammenhänge und das Leid und die unmenschlichen Schandtaten
der Industrie, nahezu aller Betriebe und auch jeder Bauernhof hatte seinen
Zwangsarbeiter. Wurden sie angemessen entschädigt? Bis heute nicht. Nun sterben
sie, ohne dass sie bekommen, was ihnen zusteht. Und nicht der Staat muss
bezahlen, sondern die Nachfolger der Betriebe wie Siemens, die in Ravensbrück
sich der Häftlinge bedienten. Nicht nur dort.
Was sagt die alte Frau Abraham,
die vorsichtig ihre Füße in den Schnee setzt, die zwei Lager überlebte: „Jede
Lawine fängt mit einem Schneeball an. Es war nicht Hitler, es waren die
Nachbarn. Sie wollten alle teilhaben an einem großen Raubzug, an etwas ganz
Großem.“ Nichts anderes wollen die jungen Leute, die aus europäischen Ländern
in den Krieg ziehen, im Namen des Islam. Ihre Entscheidung, ihre Verantwortung.
In Deutschland gelten andere Gesetze und Werte.
© Text und Fotos: J. Monika Walther
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