Mittwoch, 27. Juli 2016

Wenn Dörfer und Menschen verschwinden, aber die Häuser bleiben



2016-07-27


            Was wird nachgelassen, wenn der Vertrag mit dem Leben abgelaufen ist? Ein Haus, ein Baum, ein Buch? Familie. Geschichten. Tradition? Schnick schnack schnuck. Stein Schere Brunnen und Papier. Manchmal haben wir gewonnen und uns diebisch gefreut. Der kleine Extrapreis im Leben. Früher ging es dabei ums Abwaschen oder Abtrocknen. In den Zeiten vor der Spülmaschine. Früher und heute; hier, überall und am Ende der Welt. Das Nebeneinander und die gewusste Gleichzeitigkeit von allem und jedem im Kopf und in der Seele. Alles da, alles nah. Von der überbordenden Werbung bis zu den Toten und Attentaten überall. Macheten, Messer, Splitterbomben, Langgewehre.
            Hier ein guter Espresso, dort Folter in der Türkei, Bomben in Bagdad, ertrinkende Flüchtlinge. Kriege. Viele wohnen in keinem Haus und sind die Schleuderfiguren der Mächtigen. Werden geduldet. Ohne Vertrag für ein Leben in Würde. Und ihr Nachlass?              

Und was hinterlassen die Donalds und Receps, die wie so viele Menschen glauben, Hass sei eine Meinung; Mauern und Säuberungen eine Lösung. Alles nah, alles kommuniziert, alles da. Mülleimer, die über mich ausgeschüttet werden und deren Inhalt ich sortieren und mich entscheiden muss. Und wie verhalte ich mich, wenn ich mir sicher bin, dass die Türkei sich zu einer Diktatur entwickelt? Was hat das mit den Rosen und Mohnblüten im Garten zu tun, mit den weißen Tauben des Nachbars? Wie hängt das alles zusammen und welche Rolle spiele ich?
            Ich war 23 Jahre alt, als ich das Huisje in Ee kaufte. Für sechstausend Gulden, die Knechtswohnung des kleinen Bauernhofes in Fryslân. Von Ans und Piet Hiemstra. Eine Ruine. Ohne Wasser und Elektrizität. Abends trotteten zwölf Kühe in den Stall. Ans hatte keinen Herd, keine Dusche. Piet sagte damals, du kannst ja links sein, aber an Gott glaubst du doch? Ja, sagte ich, das tue ich. Und das stimmt bis heute. Damals, in den 60er Jahren, war das Leben auch in den Niederlanden ein ganz anderes als heute, auch wenn auf den Dörfern die Umbrüche immer etwas später und langsamer ankommen. Zum Glück, denn nun wird immer sichtbarer wie die Dörfer in ganz Europa sterben. Selbst Gott verschwindet. Der Ablauf war im letzten Jahrhundert immer derselbe. Als Dörfer wie Ee in Fryslân oder Hiddingsel im Münsterland noch lebten, gab es zwei Schlachter, drei Lebensmittelhändler, zwei Bäcker, einen Brennstoffhändler, einen Priester oder Pfarrer sowieso, vier Kneipen, eine Tankstelle, einen Malerbetrieb, eine Schreinerei, einen Fahrradladen, eine Autowerkstatt, ein Geschäft für Pferdegeschirre, eines für Kleidung, eines für Töpfe und Pfannen, einen Schmied. Eine Post, ein Fuhrunternehmen. Eine Schule. Dann schrumpfte die Einwohnerzahl. Ende des Jahrhunderts gab es noch einen Postkasten. Im Lauf von nur zwei Generationen brachten neue Arbeits- und Lebensverhältnisse dörfliche Lebensformen und Traditionen zum Verschwinden. Erst im nächsten Jahrhundert konnte das Sterben wenigstens gestoppt werden. Aber lebendig werden die Dörfer nicht mehr.
            Nach dem Kauf des kleinen Hauses erlebte ich, wie erst der katholische Kaufmannsladen schloss, dann einer der Schlachter, dann der Bäcker und so ging es immer weiter. Bis auch der Postkasten verschwand. Piet und Ans sind schon lange weg. Sie sind tot. Piet fuhr am Ende seiner Tage irgendwohin mit dem Fahrrad und wusste nicht mehr, wo er war. Ich habe ihn oft mit meinem kleinen Citröen gesucht und nach Hause gebracht.
            Ans sagte mir schon im Winter, dass wir im Frühjahr streichen müssen. Im April stand sie dann im Overall da, fegte, schmirgelte und strich und irgendwann wusste sie, dass nebenan immer neue Farben in Mode waren. Passte sie sich mit Grün an, pinselte ich die Haustür bordeauxrot. Irgendwann begriff ich, dass wir uns einigen sollten. Nein, dass ich fragen sollte, wie wir im Frühjahr streichen wollen. Damit die beiden Huisjes endlich gleich aussahen: cremefarbene Fenster- und Türrahmen. Die Haustüren dunkelgrün.
            Ans vermisse ich bis heute. Als Piet tot war, war Ans froh, die letzten Jahre endlich einmal in ihrem Leben nichts mehr tun zu müssen. Sie zog gerne in ein Altenheim. Da ich nicht noch ein Haus brauchte und bezahlen konnte, verkaufte sie an Fremde aus Leeuwarden. Neue Nachbarn. Es gab auf einmal Zäune zwischen den Grundstücken und Wegen. Es wurde vieles anders. Wie das eben so ist. Manchmal dauert es lange, bis Menschen sich aneinander gewöhnen, verstehen, was wie gemeint ist. Gemeinsam wurden dann die Dächer gedeckt, vorne die neuen Ziegel, hinten die alten, die, die noch ganz waren. Damals fuhren auch noch Alwine und Alfons nach Ee. Ohne sie wäre das Haus nie so gut renoviert worden. Ich selbst hatte in vielen Jahren außer dem Einbau der Dusche, einem selbst gebauten Schreibtisch und Rigipsplatten an einigen Wänden nicht viel Zustande gebracht. Alfons und Alwine legten Fliesen, Leitungen, besorgten einen Schmied, der Heizungsrohre durch das Haus zog, bauten ein neues Dach über der Bijkeuken. Neue Fenster. Das Dach von innen gedämmt und verkleidet. Mir kommt es vor wie eine andere Zeit, die ganze Familie schuftete damals zwei Wochen, bis das Haus endlich wirklich bewohnbar war. 
 

            Dieses Jahr starb nicht nur Alfons, sondern auch Ali Bruinja, die Mutter der Nachbarin, ist gestorben. Und da stand ich vor meinem Schreibhaus und heulte. Zwei Jahre älter denn ich war Ali. Ich sehe sie vor mir. Tschau Ali. Als ich mich einmal überhaupt nicht nach einer Operation bücken konnte, hast du das ganze Grünzeug aufgelesen. Bedankt. Es ist wohl allmählich besser nicht so viel zu planen und zu warten, sondern gleich sich zu bedanken und zu lachen.

 

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