Dienstag, 2. Februar 2016
Humaldawei: Wie im Frieden
Humaldawei: Wie im Frieden: Nehmen Sie sich Zeit für diesen so berührenden Text von JMonika Walther: ©JMonika Walther Wie im Frieden ...
Wie im Frieden
Nehmen Sie sich Zeit für diesen so berührenden Text von JMonika Walther:
©JMonika Walther
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Wie im
Frieden
Immer montags beiße ich die Zähne
zusammen, bis der Kiefer schmerzt. Gleich, wo ich bin. In diesem oder jenem
Dorf hinter dem Deich. Oder am Kanal Zuhause. Tränen kommen, weil die Toten zu
Besuch sind, die Vergangenheit mich würgt. Keine runden Tränen, die über die
Wangen rollen und filmreif sind, sondern zerdrückte Wassertropfen in den
Augenwinkeln. Schreien will ich montags und lächle stattdessen in den Monitor
des Computers. Schieße Katzen oder Vögelchen ab, spiele Doppelkopf online und schreibe
Wortstücke. Die Toten der Familie treiben sich im Haus herum.
Ich schaue
niemanden an, auch nicht mein Spiegelbild. Meine Angst und meine Liebe sind in
mir. Nach innen geht der Blick. Geh gerade; den Blick erst auf die Fußspitzen,
dann vorbei an den Mündern und Augen der Erwachsenen, in den Himmel hinter die
Wolken. Die Sterne, die Sterne bilden unsere Sinnesart. Und dann der Blick
zurück auf die Fußspitzen. Ich habe den Erwachsenen niemals etwas über mich
erzählt. Nicht meiner Mutter. Ihr vor allen anderen nichts.
Von dem Kind gibt es wenig
Fotografien. Mit drei Jahren ein schönes kleines Mädchen mit langen rotblonden
Locken. Danach biss das Kind die Zähne zusammen und schaute hinter die
Himmelslinie. Stand stocksteif. Ohne Lächeln. Die Mutter, abwesend und kühl,
ließ die Haare der Tochter kurz schneiden, der Mann prügelte und trank. Auf den
Reisen war das Kind nicht dabei, sondern immer anderswo. Mann Frau am Lago
Maggiore, Kind in England bei Verwandten. Eltern in England, Kind im
Schwarzwald. Mutter in Hamburg, Kind in Haarlem. Kind in Hamburg, Mann und Frau
in Liverpool. Und so weiter. Ich war das Kind ohne Eltern, mal das hübsche
Mädchen, dann wütend. Allein. Mit meinem Stoffterrier habe ich geredet, ihm von
der Welt erzählt, dem Bodensee, dem Nordmeer, dem Säntis und dem Schwarzwald.
Nicht von mir. Im Traum saß ich mit einer roten Katze und meinem Terrier am
Lagerfeuer. Die Katze hatte einen Schnurrbart. Wir hielten Stöckchen mit
Kartoffeln ins Feuer. Ich habe mich oft im Bad eingeschlossen, um im Alleinsein
allein zu sein und zu weinen oder zu wüten. Der Schmerz ist bis heute im Herzen
und die Seele verbog sich. Ich verstand meine Seele nicht und verband sie nicht
mit meinen Sinnen. Ich lernte tüchtig zu sein, um gemocht zu werden. Mit dem Abiturzeugnis
in der Hand verschwand das Kind. Endlich.
Heute ist Montagnacht. Es regnet.
Hinter dem Deich und hinter dem Fluss fahren Schiffe nach Amerika. Ich trinke
den letzten Schluck vom lauwarmen Gin. Die Eiswürfel sind schlierig
geschmolzen. Atmen. Glückshüpfer. Draußen die nebeligen Schatten und ein
bewegungsloses Licht. Glückshüpfer und die grauen nassschweren Schleppen des
Glücks und der Wunschbäume.
Morgen war Dienstag. Ich packe
einen Rucksack. Das erste Mal im Leben packe ich einen kleinen Rucksack. Wenn
ich verloren gehe, genügt der Rucksack. Niemand bleibt lange im wirklichen
Leben normal. Der Blick zur Himmelslinie. Das Zittern im Herzen.
Was hast
du?
Nichts.
Niemand kann auf die Frage den Mund öffnen. Was hast du? Nichts - ist die wahre
Lüge. Und beruhigt alle. Nur die rote Katze und der Stoffterrier wissen die
Wahrheit, deshalb sitzen wir still am Lagerfeuer. Die Liebe verborgen.
Heute ist
kein Montag. Im grauen Himmel fliegen weiße Gänse. Die Dokkumer Grootdiep ist
randvoll. Die Bäche, Stichkanäle, die Zuider Ee laufen über. Das Schilf ist
geschnitten. Eine Herde schwarzer Schafe wandert die Graskante entlang. Mitten
unter ihnen Hunderte der schwarzen Blesshühner. Das Wasser der Grachten fließt
schwarz. Die Erde ist schwarz. In den Furchen hocken Schwäne. Die Reisepläne
sind durcheinander. Sie waren alle nicht Spanien. Sie blieben. Sie beginnen
früher als sonst mit dem Nesterbau. Im Dorf Ee wird die Straße erneuert werden.
Der historische Charakter soll sichtbarer, das Dorf zugänglicher werden. Ee
will sich mit dem Flachsmuseum an der Wattentour beteiligen. Der Humaldawei
soll sicherer werden. Früher war diese Durchgangsstraße mit Basaltsteinen
gepflastert. Bei jedem Trecker wackelten die kleinen Häuser. Dann wurde die
Landstraße mit Asphalt zugeschmiert. Nun also die Pläne für eine Erneuerung
2017 mit der Idee, dass jeder Tourist nicht nur Dokkum, sondern auch Ee, die
historische Dorfansicht und das Flachsmuseum gesehen haben muss. Ein Versuch,
auch wenn gleichzeitig immer wieder viele Häuser leerstehen und der letzte
Schlachter seinen Laden aufgegeben hat. Aber es gibt auch immer wieder Neues
und es lohnt sich Fryslân kennenzulernen, die weiten Himmel, das flache Land
hinter den Deichen, die graue See, die Häfen.
Wer genau
hinschaut, sieht an einer der Grachten die rote Katze, den Terrier und mich an
einem Lagerfeuer sitzen. Wir halten Stöckchen mit Kartoffeln ins Feuer. Wir
geben auch was ab.
©JMonika Walther |
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