Koolgänse und Aale
Im Hamburger Hafen sah ich als Kind den ersten lebenden
Aal. Tote Krabben, rosafarben und einen sich windenden Aal. Der Fischer nahm den
Aal, drehte sich um, ein Ruck und dann bekam ich Krabben und Aal in
Zeitungspapier gewickelt, ausgehändigt. Mein Onkel lächelte ernst, sagte: „Wir
haben ein Glück.“ – Ja, das hatte er, der nach dem Krieg, aufgetaucht aus einem
Lager, eine Buchhalterstelle bei der Reederei Stinnes gefunden hatte, später
Chefprokurist wurde, mit Chauffeur und einem großen Büro, von dem aus ich auf
die Elbe schauen konnte und über den dicken Teppich ging ich als Kind hin und
her, staunend. Und die Tante hatte auch Glück, die im Bunker beim NWDR putzte,
auf dem Heiliggeistfeld. Und ich hatte auch Glück, dass ich überhaupt geboren
wurde, und dass es überall in der Welt Verwandte gab, nur kaum noch welche in
Leipzig und Ostberlin. Aber in Boulogne-sur-Mer. Ein geflüchteter Onkel, er
schneidet Haare, in einer kleinen Stube am Hafen. Und er bekommt jeden Tag
Muscheln oder ein paar Fische. Er kommt auch nach dem Krieg über die Runden. Und
ich lerne bei ihm Muscheln essen, Fische ausnehmen. Ohne großes
Getue.
Glück hatte auch eine aus Nazideutschland geflüchtete
Cousine, die in Verstecken
überlebte, einen Niederländer heiratete, nie wieder Deutsch sprach. Jaap, der
Fröhliche und Freundliche, der mit mir, dem Kind, durch Haarlem und Amsterdam
ging und deutsch radebrechte. Ende
der Fünfziger Jahre. Und mir zeigte, was gefillter Fisch ist und wie die
chinesische und indonesische Küche schmeckt.
Glück hatte auch ich, dass es in all der Fremde und Traurigkeit
immer wieder einen Onkel, eine Tante gab, einen entfernten Verwandten, die sich
kümmerten und mir Leben zeigten, dem kleinen Mädchen erzählten, wie das Leben
der Familie war - vor 1933 und vor
1939, vor den Fluchten, in Leipzig, Hamburg und anderswo. Glück fühlte ich, als
ich mit dreiundzwanzig das erste Mal an der Lauwerzee stand, dem damals viel
größeren See und dem damals viel kleineren Hafen, in dem Fischer mit kleinen
Kähnen anlegten, ihren Fang vom Boot aus verkauften oder in kleinen Läden
ablieferten, danach gingen sie in kleinen Dörfern und Bauernschaften in die
vielen kleinen Kneipen und tranken, so viel der Zapfhahn hergab. Ich fühlte
Glück unter diesem schiefergrauen Himmel zu stehen, am Strand angeschwemmtes
Holz zu sammeln für den Ofen, ein winziges halbes Häuschen zu haben, neben dem
Bauernpaar Piet und Ans, einen frischen Aal geschenkt zu bekommen und Schollen.
Ich fühlte Glück unter dem zugigen Dach zu schlafen (das war nicht verkleidet,
da pfiff der Wind durch) und den ersten wackeligen Schreibtisch zu bauen, da zu
sitzen und zu schreiben.
Damals wusste ich wenig über die Geschichte und das
Nordmeer. Wie anderswo auch hatte es zwischen 1500 und 1700 immer wieder große
Überflutungen des Lauwerszeegebiet gegeben: 1509, 1542, 1650 und 1665. Die
Weihnachtsflut des Jahres 1717 war für den Norden der Niederlande katastrophal.
Viele Schleusen waren nach der Flut völlig zerstört. Danach wurden über die
Jahrhunderte immer mehr Küstengebiete eingedeicht und so wurde die Lauwerzee
kleiner und kleiner. Im Herbst 2003 stand der Beschluss, den Nationalpark
Lauwerzee einzurichten. Der Versuch ein Gleichgewicht zwischen Meer, Natur, dem
Hafenbetrieb und dem Tourismus und Militär herzustellen. Erst verschwanden viele
Pflanzen, Fischarten und die Schalentiere als das Land nicht mehr Flut und Ebbe
erlebte,
dann wuchsen neue Blumen wie Orchideen, das Sumpf-Herzblatt. Das Gebiet
wurde Heimat für Graugänse, Krickenten, Pfeifenten und Weißwangengänse; Zugvögel
und Wintergäste kommen an der Lauwerzee zur Ruhe. Hunderte von Löffelenten und
Brandgäsen suchen Nahrung im Winter. Reiher schweben über die Felder,
Strandläufer aller Art, Weihen, Kiebitze, hunderte Arten von Wattvögeln sind zu
beobachten. Ja, und Flamingos sind im Sommer zu sehen. Sommergäste. Ich habe sie
gesehen und – wie Kormorane Aale fangen. Koolgänse heißen sie auf
Niederländisch. Ein kleines
Paradies ist aus dem Gebiet Lauwerzee geworden. Und ich fühle immer wieder
Glück, wenn ich über das graue Wasser schaue, Sternmöwen und andere nach Nahrung
suchen, flattern und schweben, hüpfen und ins Wasser stoßen. Manchmal denke ich
zurück an Hamburg und wenn Regine und ich auf den Michel rannten und da oben
standen und strahlten.
© Jay Monika Walther
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