wer könnte hier gesessen und gewartet haben? |
Als es dämmerte, verließ Emmi Thulin das Haus, mit
einem leichten, beschwingten, mit einem aufrechten und stolzen Gang. Energie
ging von ihr aus, und Kraft, all das hüllte sie wie ein wehender Mantel ein.
Sie trug ein dünnes, wadenlanges Kleid, eins in der Art, wie sie heute nicht
mehr modern sind. Es ließ ihre Schultern frei und Emmis Haut war hell und
schimmerte, sie war nicht braun wie die vielen anderen in der Stadt, obwohl es
schon lange ein warmer Sommer war und man sich am Fluss großartig bräunen
konnte. Ihre moccafarbenen Riemchensandalen hatten einen kleinen Absatz,
geschwungen, sie waren einmal in Mailand handgearbeitet worden. Der Leisten
hatte den richtigen Schwung, um gut darauf gehen zu können. Ihre Haarfarbe war
nicht sichtbar, ihr Haar war unter einem pompösen Strohhut versteckt, der Hut
trug Blumen und Trauben, Blätter und obendrauf wippte beim Gehen ein
knallbunter Kolibri.
Emmis Augen waren hinter dunklem Glas, Emmi trug
die große Sonnenbrille und auch die war schon lange aus der Mode.
Natürlich fiel sie auf. Natürlich blieben Leute stehen, sahen ihr
nach, aber sie lächelten dabei, denn Emmi sah fantastisch aus, war wie eine
Erinnerung an die Vergangenheit, war ein Bild, eine Szene aus einem der
altmodischen französischen Filme, die heute wieder neu entdeckt werden.
Emmi
Thulin brauchte die Dämmerung, um zu sehen, sie brauchte die blaue Stunde des
Sommerabends, um zum Fluss zu gehen, immer ging sie allein, immer trug sie
dasselbe und es sah jedes Mal aus wie neu.
An
der Stelle, wo der Fluss eine Biegung macht, ist eine Brücke und an dem
Brückengeländer steht Emmi jeden Tag. Im Sommer. Im letzten, vorletzten und
viele Jahre davor, ganz genau kann man nicht sagen, wie viele Sommer Emmi
Thulin hier jeden Abend steht, sich über das Geländer beugt, ganz leicht, nein,
nicht wie die Selbstmörder, sondern gelassen, entspannt und schaut zu der
Biegung da hinten am Fluss. Wenn die Schatten länger werden und die Luft sich
von Lärm, Schmutz, Worten und Seufzern und Gelächter gereinigt hat, lässt sie
das Geländer los, geht, bis sie zu einer Treppe kommt, die nach unten, zum Ufer
führt. Dort ist ein schmaler Weg, der von wucherndem Grünzeug fast verdeckt
ist, hier kann man bis hinter die Biegung gehen. Wenn Schwalben über ihr
gleiten, geht Emmi mit ihrem wippenden Kolibri diesen Weg. Niemand hält sie
auf, niemand belästigt sie, sie ist ein Bild aus einem Bild.
Das
Ende des Weges erreicht sie, wenn es mehr Schatten als Licht gibt, wenn das
Wasser ins Dunkelblaugraue geht, das Ende des Weges zeigt; den Fluss, wie er
mäandert, und eine winzige Bucht, die einen Platz für zwei Menschen bietet.
Hier
setzt sie sich und keiner würde wagen, sie zu stören. Selbst die Kinder nicht.
Hier
nimmt Emmi Thulin den Hut ab, legt ihn behutsam neben sich, hier lässt sie ihr
Haar frei, langes, welliges, sehr graues Haar mit dunkleren und auch hellen
Strähnen, dass ihr schmales Gesicht mit der markanten Nase umrahmt, hier nimmt
sie die Sonnenbrille ab und niemand kann in diese leuchtend türkisblauen Augen
sehen.
Während
ihr Blick das Wasser absucht, sie sich nicht bewegt, als hätte sie Angst, diese
spitzigen Wellen könnten sie verschlingen. Während sie steht, wartet sie auf
den Mond, egal, ob er Sichel oder ein Kindervollmond ist. Manchmal beginnt sie
zu singen, leise, eine hier nicht bekannte Melodie.
Und
dann setzt sie ruckartig, hastig, den Hut wieder auf, nicht ohne vorher das
Haar hochzustecken, zusammenzustecken, holt aus ihrer Handtasche, dieser
beutelartigen, aus bräunlichem, weichen, fleckigen Leder, fleckig wie
Tränenspuren ein meergrünes Etui, in dem die Sonnenbrille verschwindet. Fast
wie auf der Flucht dreht sie sich um, eilt, hastet, stolpert den Weg zurück zur
Treppe, rast hinauf, um dann mit nur etwas Spannung, nur etwas Hüftschwung,
aber mit hochgerecktem Kopf nach Hause in die Judengasse zu gehen.
Guten
Abend, Frau Thulin! Die Bäckersfrau grüßt freundlich.
Wieder
ein schöner Tag, antwortet Emmi mit einer Stimme, die man kaum
verstehen kann.
***
Wenn
der Nebel über dem Fluss hängt, ihn umklammert, wenn Nässe sich in den Straßen
ausbreitet, wenn herbstbunte Blätter ihre Farben verlieren, ein langweiliges
Braun annehmen, ist die Sommer-Emmi nicht zu sehen. Im Herbst und im Winter
kann man in den Läden der winkligen Gassen Frau Thulin beim Einkaufen sehen.
Mantel oder Wetterjacke, Mütze, Haarsträhnen, die herunterhängen, sich gelöst
haben, gleichgültiger Blick und gebeugter Gang.
***
Wer
die Geschichten der Bewohner hier kennt, weiß auch ein wenig aus Emmis
Geschichte.
Vor
über zwanzig Jahren, vielleicht auch schon länger, erzählen sich die Leute an
langen Abenden, war Emmi mit einem Mann, der 800 Kilometer südlicher wohnte,
verlobt. Ein schönes Paar und so glücklich waren sie, seufzen die Älteren.
Und
dann.
Dann
dieser Abend. Da unten am Fluss, nahe der Bucht. Emmis Verlobter stieg in das
Wasser, schwamm los, während sie sich auszog, um hinterher zu schwimmen. Das
war nichts Ungewöhnliches, in diesem Fluss konnte man immer schwimmen,
besonders an den Stellen, wo er wieder einmal um die Ecke bog, hier war er
flach, erst in der Mitte wurde er tiefer, erst in der Mitte griff die heftige
Strömung.
Während
Emmi auf ihren Freund zu schwamm, sah sie, wie er schneller wurde, wie die
Wellen ihn vorwärts trieben, bis er nicht mehr und nie mehr zu sehen war.
All
diese Jahre trauert Emmi Thulin um ihren Liebsten, all diese Sommer geht sie
hinunter zu Fluss, all diese Abende hofft sie, dass der Mann von der Strömung
flussaufwärts getragen, geschoben wird, dass er zurück kommt.
Diese
eine Hoffnung ist für sie immer noch stärker als ihr Kummer, als ihr Schmerz,
seiner Liebe nie im Leben mehr begegnen zu können.
Monika Detering
www.monika-detering.de
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