Freitag, 22. September 2017

Die Blüten der Hortensien tanzen im Sturm und die Schafe murren




            Mach’ mal drei Koks klar. Und drei Halbe auf mich. Solche Bestellungen gab es früher in Kneipen, deren Türen heute längst zugemauert sind. Hubertusstübchen. Zur alten Zeche. Monis Eckkneipe. Ein Koks besteht aus einem Teelöffel Kaffeemehl, einem Würfelzucker und einer angemessenen Menge Maria Cron. So war das früher, bis in die achtziger Jahre. In Arbeiterkneipen. In Westdeutschland.
        
    In Ee, in Kollum, Anjum saßen früher die alten Männer, Bauern, Lastwagenfahrer, auch Frauen abends in den Dorfkneipen und tranken zum Bier Bauernjungs. Ein Boerenjong besteht aus Rosinen, Zucker und Genever. Das Glas kommt auf eine Untertasse, mit Würfelzucker und einem Löffel. Vor dem Genuss kommt die Geduld. Die Rosinen müssen ziehen, dann wird der Löffel mit einem Stück Würfelzucker in den Korn gehalten, bis es sich vollgesogen hat. Langsam zerkauen. Nach und nach werden die Rosinen gelutscht und ab und an Genever nachgegossen. Es wurde nicht nur gelutscht und getrunken, es wurde sehr viel geredet, gelacht, gesungen. In Frankreich gab es früher zum Calvados immer ein kleiner Teller mit Würfelzucker und einem Löffel. Andere Zeiten, andere Arbeit, andere Kneipen und Restaurants. Alles vorbei. Niemand hat mehr heute diese Zeit, kennt die Lieder und getrunken wird anders. Vergangenheit. Veränderungen gehören zum Leben. Aber manchmal ist da auch eine leise Trauer um das Verlorene und manch einer beißt die Zähne zusammen oder schimpft auf die neuen Zeiten. Denn nicht alle Veränderungen bringen bessere Zeiten für alle mit sich.
            Im Dorf Hiddingsel wurden aus Wiesen Baugebiete. Neue Straßen werden angelegt, Flächen versiegelt. Diese Massnahmen müssen dann von den Anwohnern bezahlt werden. Ob sie wollen oder nicht. Steht so im Gesetz. Auch die Ausweisung neuer Naturflächen. Ein Machtspiel, das immer die in der Stadt gewinnen.
            Zwischen den Dörfern Engwierum, Ee und Metslawier wird die Straße umgebaut, erneuert. Vor zwanzig Jahren waren die alten Basaltpflastersteine herausgerissen worden und alle Wege wurden asphaltiert. Jetzt wird der Asphalt wieder herausgerissen und die Kreuzungen gepflastert. Alte Eschen werden gefällt, damit die Gehwege verbreitert werden können, ohne dass die Passanten sich an einem Baumstamm stoßen. Aber das war eine geringe Gefahr bei den wenigen Menschen, die im Dorf von rechts nach links gehen. Am Tag mögen es zwanzig sein. Und zwei Menschen nebeneinander passen auch auf diesen alten Gehweg mit Bäumen. Aber so ist der Plan. Also weg mit den Bäumen und Büschen, weg mit den alten Gehwegplatten. Kaum waren diese teuren Straßenarbeiten begonnen, die keinen Arbeitsplatz mehr in die friesischen Dörfer bringen, keinen neuen Dorfladen, keinen Postkasten mehr, wurde ein Umschlag mit einer neuen Umfrage in die Postkästen der Häuser geworfen: Bouw mee aan de toekomst van Ee. Ee 2025. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Das Leben und der Zusammenhalt, der in Dörfern, ob in Fryslan, Westfalen oder in der Prignitz noch besteht, ist einzig dem Engagement der Einwohner zu verdanken, nicht den staatlichen Plänen. Von oben sorgt niemand für das Überleben einer Grundschule, des Dorfladens, der ärztlichen Versorgung und der Buslinien. Oben werden Pläne für Städte und Ballungszentren entworfen, obwohl die Hälfte der Menschen selbst in Westeuropa auf dem Land wohnt. Da braucht es viel Koks, getränkten Würfelzucker und Boerenjongs um die Ignoranz der Politik zu ertragen. Besser wird es sein, sich zu engagieren und deutliche Forderungen jenseits der staatlichen Umfragen zu formulieren. Moderne Zeiten, Erhalt der Natur und bessere Lebensverhältnisse entstehen nicht durch Abriss und neuen Straßenasphalt auf Kreisstraßen. 


           
Zwei Seiten der Medaille

Die Dinge berührt brauche ich nicht
Eine Hand geküsst die Innenseite
Den singenden Schwänen zugehört
Die Möwen gesehen landeinwärts
segelnd Wiesen und Stille

Wo ist meine Zeit -
Jeder Tag ist einer zu spät
jede Stunde im Zwischenraum
Wie will ich wissen
wann die Passatwinde wehen
Jeder Tag ist einer zu früh
Wie will ich wissen
wem die Hand gehört
Wohin die Kraniche fliegen
Wer die Dinge schuf
wer die Sachen wegwirft
Warum die Schafe murren
über Raub und Mord
über Goldtürme und Mauern
überschwemmte Salzwiesen
Abschiede und Missgunst
Ich lerne die Zeichen


für Himmelsklumpen
die Worte meine Zeit.
Ich falle aus keinen Wolken.

Die Blüten der Hortensien tanzen im Sturm
Der Tag versinkt im süß gelben Honig
Die Sonne leuchtet als Schnelldurchgang
Kein Glockengeläut aber Menschenlachen.
Ich fass mir ans Herz und
pfeif auf die Dinge -

© J. Monika Walther

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