Samstag, 30. Dezember 2017

Vergangenheit ist nicht nur Gegenwart ...




30. 12. 2017

            Wir zählen Tage, Monate und Jahre. Manchmal mit Stolz, mit Trauer. Aber wir zählen. Schauen hinter uns. Oft zu wenig nach vorne. Aber die Vergangenheit ist nicht nur Gegenwart, sondern immer schon unsere Zukunft. Wir gehen am Meeressaum längst, sammeln Bernstein, Muscheln, Feder, das rund geschliffene Glas und denken, jetzt sind wir hier am Strand. Wir sind im Jetzt. Ganz fortschrittlich. Das haben wir gelernt. Wir atmen Meeresluft. Jetzt. Aber während wir uns bücken und sammeln, sind wir in vergangenen Zeiten. In der Geschichte. Während wir den Bernstein in Händen drehen, sind wir bei den fremden Vorfahren, versunken in den Stürmen vergangener Zeiten. Während die Möwe ihre Feder verliert, der ich hinterherlaufe, renne ich in meine Zukunft. Ich werde die Feder aufbewahren. Zwanzig Jahre später erinnere ich mich an den Strand in Polen, die Möwe, die Feder, das Glas und den Bernstein. Inzwischen habe ich von Reisen durch Polen und Lettland geschrieben, von den Besuchen bei der Schriftstellerin Helga M. Novak in Legbond. Inzwischen ist das Polen, das ich mochte, wieder politisch in die Vergangenheit gerutscht, weil das Land durch seine Zweigeteiltheit nicht im Ganzen die Zukunft planen kann. Weil Polen als Staat immer wieder beseitigt worden war und sich bis heute vergewissern muss, dass es existiert und niemand mehr, die Polen von links nach rechts jagen kann. Die Angst ist da. Für Russen, Preußen und Österreicher war es nicht schwierig, polnisches Land sich einzuverleiben. Faschisten und Stalinisten haben den polnischen Staat beseitigt.
            Great Britain will die Europäische Union verlassen, weil einige Studierte aus Oxford und die Leute aus den armen Gegenden in England davon träumen, wieder wie in der glorreichen Vergangenheit die Meere zu befahren, Spanier zu besiegen oder Indien zu kolonialisieren. Wenigstens die Polen aus dem Land zu werfen, die dort schon seit zwanzig Jahren leben und wenigstens den anderen Nationen das Fischen vor der britischen Küste zu verbieten. Wenigstens. Great Britain first. Hass bricht sich nicht nur in England Bahn: Hängt die Verräter auf. Tötet. Entsorgt. Deportiert. Vergewaltigt. Bedrohungen. Für Nachbarn ebenso wie für Fremde. Deutsche Rassisten träumen wieder von einem Land mit nur einer Sorte Mensch, einer Kartoffelart. Einem Schwur auf Blut und Boden. Ein Schwur auf die Vergangenheit, ob nun glorreich oder nicht. Um die Zukunft abzuwehren. Aber die großen Ideologien haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie nur für Kriege, Verwüstung und Elend taugen. Geblieben ist der Kapitalismus, geeignet für den Egoismus der Menschen, für das Gute und das Böse im menschlichen Leben. Aber ohne Zügelung der Gier wird auch er zu einem weltweiten Elend führen, denn jeder Fortschritt enthält Zerstörung von Ressourcen und Lebensmöglichkeiten.
            Die Niederlande sind ein kleines Land, mit vielen eigenwilligen Provinzen, vielen kleinen Parteien und sehr viel Land, das in der Vergangenheit dem Nordmeer abgerungen wurde. Heute noch durch das Poldern gewonnen wird. Die Landgewinnung war zur gleichen Zeit Vergangenheit und Zukunft des Landes wie die Art der Menschen in Europa, in der Welt mit dem sich verändernden Klima umzugehen. Wenn es kommt, wie viele Voraussagen die Entwicklung darstellen, dann versinkt nicht nur Hamburg und halb Schleswig-Holstein im Wasser, nein auch Ee und große Teile der Niederlande. Die großen Schleußen werden längst wieder gängig gemacht, Deiche erhöht und es gibt Pläne, wie ein Überleben ohne Landverlust möglich werden könnte. Aus der Gegenwart in die Zukunft, weil in der Vergangenheit unverantwortlich gehandelt wurde. Und diese Vergangenheit dauert an. Bis jetzt.
            Wintergerste, Winterweizen sind die ertragsreichsten Sorten. Aber immer öfter gibt es im Dezember, Januar warme Phasen und die Frühsaaten fangen an zu wachsen. Nach wenigen Tagen ist die Winterhärte abgebaut. Ohne schützende Schneedecke erfriert dann bei einer normalen Wintertemperatur der Weizen. Wenn die Menschen das Klima weiter so erwärmend entwickeln, so nass, so warm, mit Temperaturstürzen und Überschwemmungen, dann kann kein Wintergetreide mehr ausgesät werden. In Fryslân steht in diesem Jahr das Wasser auf den Feldern. Das Grundwasser steigt. Die Mäuse flüchten sich in die Häuser und Scheunen. Die vielen Gänse und Enten, die an der Lauwerszee leben und überwintern, finden weniger Nahrung auf den nassen Feldern.
            Es wird aber auch für die Menschen gefährlicher werden, auf dieser Erde weiter so zu leben, als stellte nicht der Turmarbeiter aus gutem Grund ein Warnschild auf, bevor er den Hahn vergoldet. Als hätte Dürer, Caspar David Friedrich, Frieda Kahlo, Paula Modersohn-Becker nicht in der Vergangenheit die Welt der Zukunft gemalt, als wäre nicht schon von Dichterinnen und Autoren alles beschrieben. Fast. Denn die Wirklichkeit erschlägt die Klugheit. Die Rohheit und Gewalt. Und doch: Wir kommen woher und gehen – wohin? Wir fragen, antworten. Und der Turmarbeiter stellt ein Warnschild auf. Mit Sorgfalt.

© J. Monika Walther
 ©Fotos: J. Monika Walther





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