Die
zwei Seiten der Medaillen. Wenn ich genug Medaillen, Münzen hätte, wäre
es vielleicht egal, welche Zahl auf der einen Seite steht. Und
welche Machtsymbole auf der anderen. Ich könnte alle Seiten und
Medaillen verteilen und austauschen nach Lust und Laune. Mit wenigen
Münzen und dem Wissen, dass es zu allem und jedem mehrere Blickwinkel
gibt, liegt unter den Pflastersteinen nicht nur Sand. Und aus dem Sand
lässt sich auch kein Strand schaufeln. Uwe Johnson beginnt Band zwei der
„Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ mit dem Satz: „Das
Wasser ist tief unter der Straße versteckt…“
Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes.
Sagten sie in Amerika zu Gesine. Aber so einfach ist das nicht. Gesine
kann keine Schiffspassage zurück nach Jerichow buchen, nach Mecklenburg.
Nicht einmal das Weggehen aus der Ostzone, der Deutschen Demokratischen
Diktatur, war Ende der fünfziger Jahre einfach. Denn weder das Reisen
zwischen den Zonen war nach 1945 freizügig und einfach noch das
Verlassen der DDR, deren oberste Genossen längst schon Grenzzäune hatten
ziehen lassen und diese mit Soldaten absicherten. Volkspolizei.
Fast
unmöglich war es, eine Fahrkarte nach Hamburg oder nach Amsterdam zu
kaufen, wozu es mehr als eine Genehmigung benötigte. Die Genossen
Bürokraten interessierte es nicht, dass dort Verwandte waren: Sollen
doch wieder nach Hause kommen. Also aussichtslos. Also wurde schwarz
gefahren. Kaum Gepäck. Immer in Bewegung. An den Bahnhöfen nach draußen.
Das Kind lief im Zug hin und her. Das war der Auftrag. Immer alles im
Blick. So kam ich das erste Mal von Leipzig über Hamburg nach Haarlem.
Zu Onkel Jaap und seiner Frau, die nie wieder nach ihrer Flucht 1938 ein
Wort Deutsch sprach. Auch nicht mit dem kleinen Mädchen. Immer in
Bewegung bleiben. Durch Amsterdam mit dem Onkel gehen. Die Nordsee und
den Strand von Zandvoort sehen. Das Ijsselmeer riechen. Auf einem Boot
bis nach Lemmer fahren und bis zum Prinses Margriet Kanal. Fryslân. Auf
einer Karte viele fremde Namen lesen. Viele fremde Wörter hören.
Scheveninger Shepsbeschuit. Mit diesem Wort wurden deutsche Spione
enttarnt. Ich lernte es mit meinen acht Jahren voller Hingabe. Mich
sollte niemand entdecken. Nicht entdeckt werden war über Jahre eine
wichtige Aufgabe in der Familie gewesen, und auch in der roten Diktatur
ging es darum, die Gedanken bei sich zu behalten, nicht zu reden. Nicht
erwischt zu werden. In Bewegung bleiben.
Fryslân.
Seit vierzig Jahren schaue ich dort in den Himmel und kenne die Farben
der Jahreszeiten. Und wie sich so vieles verändert. Zwei Seiten der
Medaille. Inzwischen gibt es überall in Friesland kleine Erdgasfelder.
Überall. Der wunderbare geschützte Naturpark um die Lauwerzee neben
unzähligen Erdgasfeldern der Gasunie und Nam. Die Bauernhöfe und kleinen
Dörfer und Bauernschaften neben der Kunststadt für Touristen an der
Lauwerzee. Die Dörfer ohne Kneipe, Pfarrer, Laden, Postkasten,
Tankstelle, daneben für die Touristen Anlegestellen, Restaurants,
Parkplätze, Fischbuden, Schnickschnack für ein paar Sommermonate,
aufgeschüttete Strände an der Lauwerzee, neue Kanäle. Demnächst kann vom
Ijsselmeer nach Berlin per Motoryacht gefahren werden. Das Alte kommt
in kleine Museen: So war es früher.
Wenn
der Sommer vorbei ist, werden Borgers in Kisten gestapelt, die
Zuckerrüben auf die kleinen Parkplätze gekippt; die Fischbuden klappen
Wagen und Stühle zusammen, winterfest; viele Restaurants öffnen nur noch
am Wochenende, nur die ‚Chinesen’ halten immer durch, denn Bami und
Nasi mit Spiegeleiern wird immer und überall von allen gegessen, alle
anderen stellen ihre Schilder in den Hinterhof. Wenn Herbst leuchtet die
Sonne in warmen Farben, die Wolken türmen sich zu Segelschiffen
zwischen denen die Dreiecke der Gänse, Enten und Schwäne fliegen: Gehen
wir oder bleiben wir noch ein paar Wochen? Die Äcker zeigen ihr
kräftiges Braun, Kohlköpfe und Lauch wachsen noch, die Hortensienbüsche
verlieren ihre Farben, aber die Bäume strahlen in der Sonne. Die
Landschaft ist voller Beruhigung und Geborgenheit.
Aber
es gibt die andere Seite der Medaille: Wenig Arbeit, Unruhe in all den
Häusern, die verkauft werden müssen. Die alten Dörfer sind Gerüst, das
bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Boote und Touristen wieder kommen,
halten muss. Unter dem Asphalt im Humaldawei liegen die uralten
Basaltsteine und darunter fließt Wasser.
© J. Monika Walther
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